HMJ06 - Das Ritual
verteidigen, er wusste es nicht, die Klinge schien sich aus eigener Kraft zu bewegen. Aber er sah niemanden.
Weg! Verschwunden! Aber das konnte nicht sein. Und die Kälte – ebenfalls verschwunden, und zurückgelassen hatte sie widerlich stinkende, feuchte Luft. Er blickte auf das Messer und schrie auf, als er die zähe rote Flüssigkeit gewahrte, die über die Klinge rann. Er schleuderte es auf den Boden … und sah, was außerdem dort lag.
»Charlie!«
O Gott, o Jesus, es war Charlie auf dem Rücken, Beine und Arme ausgestreckt, die Brust blutend und zerfleischt, und seine glasigen Augen starrten Lyle mit einem Ausdruck geschockter Überraschung an.
Lyle hatte das Gefühl, als hätten sich seine Knochen aufgelöst. Er rutschte vom Bett und kauerte auf den Knien neben seinem toten Bruder.
»Charlie, Charlie«, murmelte er zwischen heftigen Schluchzern, während er sich über ihn beugte. »Warum hast du das getan? Warum ist dir so etwas Dämliches eingefallen? Du wusstest doch …«
»Lyle?«
Charlies Stimme. Lyle ruckte hoch.
»Lyle, was willst du?«
Hinter ihm. Er drehte sich um, und dort, auf der anderen Seite des Zimmers, in der Türöffnung am anderen Ende des Bettes, stand Charlie. Lyles Mund klappte auf, doch er konnte nicht reden. Das war doch nicht möglich. Es …
Er drehte sich wieder um, starrte auf den Fußboden, aber die Stelle war leer bis auf das Messer. Kein Charlie, kein Blut auf dem Teppich oder auf der Messerklinge.
Verliere ich etwa den Verstand?
»Was geht hier vor, Mann?«, fragte Charlie gähnend. »Warum rufst du mich mitten in der Nacht?«
Lyle starrte ihn wieder an. »Charlie, ich …« Seine Stimme erstarb.
»Hey, bist du okay?«, fragte Charlie mit sorgenvoller Miene und gar nicht verärgert, als er näher kam. »Du siehst ziemlich mitgenommen aus, Bruder.«
Endlich konnte Lyle wieder sprechen. »Ich hatte gerade den schlimmsten Albtraum meines Lebens. Er erschien so echt und trotzdem … Es konnte einfach nicht sein.«
»Was ist passiert? Ich meine, worum ging es in dem Traum?«
»Jemand war hier in diesem Zimmer und hatte es auf mich abgesehen …« Er entschied, Charlie nicht zu erzählen, wie der Traum geendet hatte.
Charlie nickte. »Nun, es ist kein Wunder, woher der Traum kam.«
Richtig. Kein Problem, den Traum zu deuten, aber Lyle konnte die Begleitumstände nicht ignorieren … die Kälte … und diese Präsenz.
»Aber ich war so sicher, dass jemand hier war.« Er deutete auf das Messer auf dem Fußboden. »Ich habe sogar versucht, ihn oder sie oder es abzuwehren.«
Charlies Augen weiteten sich entsetzt, als er den Blick auf die Klinge richtete. »Du liebe Güte, ich denke, ich werde in Zukunft nachts meine Tür verriegeln, für den Fall dass du anfängst schlafzuwandeln.«
Er grinste, um anzudeuten, dass er nur einen Scherz machte. Lyle versuchte, das Lächeln zu erwidern, und hoffte, dass es nicht genauso gequält und krank aussah, wie er sich fühlte. Wenn Charlie wüsste …
Lyle hob das Messer auf und drehte es hin und her und erschauerte, als er sich an das Blut erinnerte, mit dem die Klinge beschmiert gewesen war. Er betrachtete sein verzerrtes Spiegelbild auf der glänzenden Oberfläche der Klinge, die so sauber war wie in dem Augenblick, als er sie aus der Besteckschublade genommen hatte.
Okay, demnach hatte er Charlie also nicht erstochen. Gott sei Dank. Aber gegen alle Vernunft konnte er das Gefühl nicht abschütteln, dass irgendjemand außer ihm während der Nacht in diesem Raum gewesen war.
Vielleicht sollte er sich lieber eine Pistole besorgen.
In der Zwischenwelt
Es weiß noch immer nicht, wer oder was oder wo es ist, aber Erinnerungsfragmente flitzen wie Meteoriten durch sein Bewusstsein, Furcht einflößende Eindrücke von scharfen Gegenständen und schäumender roter Flüssigkeit.
Es muss diesen Ort verlassen, muss weg von hier, RAUS!
Sonnabend
1
»Mir geht es gut, Mom«, sagte Vicky, während Gia sie ein letztes Mal innig umarmte, ehe sie sie in den Bus steigen ließ, der sie ins Ferienlager bringen würde. »Du hast nichts anderes als Trennungsangst.«
Gia musste lachen und
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