HMJ06 - Das Ritual
meldete sich Junie. »Bist du noch da?«
»Was? O ja. Ich bin noch da. Ich frage mich nur, wie so etwas möglich sein kann. Wie konnte er das gewusst haben?«
»Er hat es nicht gewusst. Die Geister wussten es. Sie haben es ihm mitgeteilt, und er hat es an mich weitergegeben. Ganz schön einfach, meinst du nicht?«
»Hmmm«, sagte Gia. Sie hatte ein seltsames Gefühl im Magen, das nichts mit morgendlicher Übelkeit zu tun hatte. »Stimmt. Das ist einfach.«
Sie beendete das Gespräch so schnell wie möglich, ohne unhöflich zu erscheinen, dann ging sie zum Wohnzimmerfenster und schaute hinaus. Ihr Blick richtete sich auf die Wohnhäuser auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes, ohne sie bewusst wahrzunehmen.
Vielleicht war das alles … reine Einbildungskraft. Sie hatte mit ihren Pillen geschlampt, ein Spiritist hatte ihr geweissagt, sie würde zwei Kinder haben, und dann hatte ihr Unterbewusstsein sich gemeldet und ihr eingeredet, sie sei schwanger.
Die Tests – und zwar gleich drei – sagten unmissverständlich das Gegenteil.
Aber diese selbst durchführbaren Tests waren im frühen Stadium einer Schwangerschaft nicht besonders genau. Das Kleingedruckte warnte vor einem möglicherweise falschen negativen Ergebnis.
Ein Bluttest … Der war angeblich außerordentlich genau, und das schon einen Tag nach der Empfängnis.
Sie suchte ihren Tagesplaner und schlug die Telefonnummer ihrer Frauenärztin nach. Gia erwartete nicht, dass sie sie an einem Sonnabend würde aufsuchen können. Aber es bestand kein Grund, weshalb sie nicht einen Test in einem Krankenhaus, zum Beispiel im Beth Israel, für sie veranlassen konnte. Gia brauchte dann nur dorthin zu gehen, sich Blut abnehmen zu lassen und auf das Ergebnis zu warten.
Ja, dachte sie und tippte die Nummer ein. Das will ich ein für alle Mal gleich klären.
So sehr Gia Jack liebte, sie wollte auf keinen Fall jetzt schwanger sein.
2
Lyle erwachte erhitzt und in Schweiß gebadet. Er konnte die Klimaanlage unter dem Fenster mit voller Kraft laufen hören, und doch kam er sich in dem Zimmer wie in einem Dampfbad vor. Das verdammte Ding war erst einen Monat alt. Es könnte wohl kaum jetzt schon über den Jordan gehen.
Er schlug die Augen auf und hob den Kopf. Jemand hatte die Rollläden hochgezogen und alle Fenster seines Zimmers geöffnet.
Lyle wälzte sich aus dem Bett. Was ging hier vor? Hatte Charlie das getan?
Er hatte nicht die Absicht, ganz Astoria zu klimatisieren, daher schloss er die Fenster und ging durch die Diele zum hinteren Zimmer. Er stürmte hinein und sah Charlie ausgestreckt auf den Laken liegen. Beide Fenster standen weit offen, und seine Klimaanlage lief auf vollen Touren.
»Verdammt noch mal, Charlie, was denkst du dir eigentlich?«
Charlie hob den Kopf und sah ihn blinzelnd an. »Was ‘n los, Bruder?«
»Die Fenster, zum Beispiel! Was soll das, dass sie offen stehen? Es wird heute ein heißer Tag.«
»Ich habe kein Fenster geöffnet.«
»Nein? Wer soll es denn getan haben? Ice-T?«
Er knallte sie zu und ging in die Diele zurück. Er wollte in sein Zimmer zurückkehren, als er einen warmen Lufthauch spürte, der die Treppe heraufwehte. Er rannte nach unten und fand sämtliche Fenster im Wartezimmer und die Haustür weit offen vor.
»Charlie!«, brüllte er. »Komm sofort runter!«
Als Charlie hereingestolpert kam, glotzte er auf die offenen Fenster und die offene Tür. »Hey, du Weltmeister, was tust du?«
»Ich? Ich habe gestern Abend eigenhändig diese Tür abgeschlossen, mitsamt Kette und so weiter. Ich bin nicht aufgestanden und hab sie geöffnet. Und da in diesem Haus lediglich zwei Personen leben, bleibst nur du übrig.«
Er schloss und verriegelte die Tür, während er sprach.
»Sieh mich nicht so an, yo«, sagte Charlie und drückte die Fenster in die Rahmen. »Ich war vor Müdigkeit völlig fertig.«
Lyle musterte seinen Bruder. Charlie war ein gewiefter Bursche, der wie kein Zweiter das Blaue vom Himmel runterlügen konnte. Aber seit er wiedergeboren worden war, sagte er die Wahrheit – und zwar immer und überall, auch wenn es wehtat.
»Wer sollte dann …? Scheiße! Hier war einer drin!«
Lyle rannte in den Channeling-Raum. Wenn jemand die Ausrüstung beschädigt hatte …
Aber nein, der Raum sah unberührt aus. Keine offensichtlichen Schäden. Eine kurze Überprüfung durch ihn und Charlie ergab, dass er noch genau in dem Zustand war, in dem sie ihn verlassen hatten. Bis auf die Fenster. Im Zuge
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