HMJ06 - Das Ritual
schüttelte den Kopf. »Nicht mal ein Zittern. Tolles Erdbeben. Du solltest es lieber ein Bebchen nennen.«
Abe Grossman, wie immer in einem kurzärmeligen weißen Oberhemd und einer schwarzen Hose voller Gebäckkrümel, saß auf seinem obligatorischen Hocker, die Beine gegen die Theke gestemmt und eine Hand auf dem voluminösen Bauch, während er sich mit der anderen ein großes Stück Mürbekuchen in den Mund schob.
Jack lehnte an der anderen Seite der ramponierten Theke im hinteren Teil von Abes Laden, dem Isher Sports Shop. Zwischen ihnen lagen – auf der Theke ausgebreitet – die Morgenzeitungen. Es war zu einer unregelmäßig gepflegten Tradition geworden, ab und zu in der Woche, aber fast immer am Samstag- und am Sonntagmorgen: Abe kaufte die Zeitungen, Jack sorgte für das Frühstück.
Jack fuhr mit dem Finger an einer Kolumne auf Seite drei der Post entlang und hielt inne, als er fand, was er suchte. »Hier steht, das Epizentrum hätte sich in Astoria befunden. Wie findest du das? Gia und ich waren mittendrin, sozusagen auf Ground Zero.«
»Von wegen Ground Zero«, meinte Abe mit einem abfälligen Achselzucken. »Kein Feuer, keine Verletzten, kein Turm! Ist so was ein Erdbeben?«
»Sie haben es bei zwei Komma fünf auf der Richterskala eingestuft – etwa genauso stark wie das Beben Anfang 2001, das die Gegend um die East Eighty-fifth Street heimgesucht hat.«
»Auch so ein Nichtereignis, wenn ich mich recht erinnere.« Er deutete auf den Mürbekuchen. »Willst du nichts davon?«
»Ich, äh, habe etwas anderes mitgebracht.«
Jack holte einen Wurst-McMuffin aus der Einkaufstasche. Ihm lief das Wasser im Munde zusammen, als er ihn aus dem Papier wickelte. Er wartete auf die Reaktion. Es dauerte etwa zwei Nanosekunden.
»Was ist das denn? Fleisch? Saftiges Fleisch für dich – und für deinen alten Freund Abe einen fettarmen Kuchen?«
»Du brauchst kein Fleisch, aber ich.«
»Wer sagt das?«
»Ich sage das. Und ich dachte, du wolltest deinen Cholesterinspiegel ein wenig senken.«
»Du versuchst, meinen Cholesterinspiegel zu senken.«
Jack musste zugeben, dass es zutraf. Aber nur weil der Knabe, wenn er so weitermachte, eine Platzkarte im Herzinfarkt-Express hatte. Und Jack wollte noch einige Jahre mit ihm verbringen – genau genommen so viele wie möglich.
»Und selbst wenn ich auf diesem Trip wäre«, sagte Abe. »Soll ich an einem Samstagmorgen mit einem Frühstück zweiter Klasse zufrieden sein?« Er streckte eine Hand aus. »Gib her. Nur ein Bissel. Nur ein kleines Bisselchen.«
»Wenn du erst mal wieder richtig in Form bist, gehe ich los und kaufe dir ein ganzes …«
»Was?« Abe klopfte sich auf den Bauch. »Eine Kugel ist keine Form?«
»Na okay, was hältst du davon: Wenn du mit den Fingerspitzen deine Zehen berühren kannst, dann spendiere ich dir einen Wurst-McMuffin.«
»Wenn Gott gewollt hätte, dass wir mit den Fingern unsere Zehen berühren können, hätte er sie uns an die Knie geklebt.«
Mit diesem Mann ließ sich einfach nicht diskutieren. »Vergiss die Gymnastik. Vergiss den Cholesterinspiegel. Ich habe mir die Wurst geholt, weil ich ein besonderes Bedürfnis habe.«
»Und das wäre?«
»Gestern Abend war ich auf einer Party. Aber vor der Party war ich noch essen, sozusagen, im Zen Palate.«
Abe verzog das Gesicht. »Nebach! Wo sie einem Tofu vorsetzen, der aussieht wie Puterfleisch?«
»Ich kann mich nicht erinnern, so etwas gesehen zu haben.«
»Dann geh mal zu Thanksgiving hin. Ich nehme an, es war Gias Idee.«
»Nun ja, sie isst kein Fleisch, weißt du.«
»Immer noch nicht?«
»Ja, und sie wollte es mal ausprobieren.«
»Nu} Und wie hattest du dein Tofu?«
»Gebraten.«
»Gebraten ist es am besten. Dann kannst du wenigstens sicher sein, dass es tot ist.«
»Aber was noch schlimmer ist: Sie servieren keinen Alkohol. Ich musste zum Imbiss an der Ecke rennen, um mir ein Bier zu kaufen.«
»Du hättest dir auch gleich ein Pastrami auf Schwarzbrot bestellen sollen, wo du schon mal da warst.«
Jack erinnerte sich an die vernichtenden Blicke des Pärchens am Nebentisch, als er seine Flasche Schlitz mit einem leisen Zischen geöffnet hatte. Er wagte kaum, sich vorzustellen, was passiert wäre, wenn er ein Pastrami- oder ein Schnitzelbaguette ausgepackt hätte. Der reinste Horror wäre ausgebrochen.
»Wem sagst du das. Ich habe seitdem einen Heißhunger auf Fleisch. Und als ich heute Morgen am McDonald’s vorbeikam, konnte ich einfach nicht
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