HMJ06 - Das Ritual
außerweltlichen Illusionen. Er war in der Schule nicht sonderlich erfolgreich gewesen – mehr aus Mangel an Interesse als aus Mangel an Fähigkeiten. Doch er wusste, wie die Dinge funktionierten. Er konnte wirklich jede Maschine völlig auseinander nehmen und wieder zusammenbauen. Falls jemand diese Vorkommnisse erklären konnte, dann wäre es Charlie.
»Ich sehe nichts«, sagte Charlie, während er eins der Fenster inspizierte. »Selbst wenn ich etwas fände, was meinst du denn, was alles nötig wäre, um so etwas über Nacht zu installieren? Ein ganzer Arbeitstrupp mit Bohrmaschinen und Stemmeisen und Presslufthämmern.«
»Okay, dann haben sie es vielleicht an einem Tag getan, als wir für längere Zeit außer Haus waren.«
»Ich sehe trotzdem nichts, womit die Fenster geöffnet werden könnten. Ich meine, sie müssten aufgedrückt oder aufgezogen werden, und hier ist einfach nichts, was dazu in der Lage wäre.«
»Nimm die Fenster auseinander, wenn es nötig ist. Es muss irgendeinen Servomechanismus geben, der sie öffnet.«
Er wusste zwar nicht genau, was ein Servomechanismus war, aber es klang gut.
»Vielleicht haben wir einen Dämon im Haus.«
»Das ist nicht lustig, Charlie.«
»Ich mache auch keine Witze, Bruder. In oder an diesem Fenster gibt es jedenfalls nichts, das es in irgendeiner Weise bewegt.«
»Da muss aber etwas sein. Wir beide wissen, dass die einzigen Dämonen und Geister auf dieser Welt die sind, die Leute wie du und ich erschaffen. Jemand versucht, uns Angst einzujagen. Und abzuschrecken. Aber wir lassen uns nicht ins Bockshorn jagen, oder?«
Ehe Charlie antworten konnte, hörte Lyle das Klicken des Haustürschlosses, also der Tür, die er gerade erst eigenhändig verriegelt hatte. Sein Mund war schlagartig so trocken wie altes Leder. Er musste miterleben, dass die Tür mit einen leisen, schrillen Quietschen aufschwang.
Lyle machte einen Satz durch die Türöffnung hinaus auf die Vorderveranda. Niemand. Leer. Er drehte sich schnell um die eigene Achse, hielt Ausschau nach jemandem, nach irgendetwas, womit sich die Ereignisse und die augenblickliche Situation hätten erklären lassen. Er hielt inne, als er die Pflanzen sah.
»Charlie, komm her.«
Charlie war gerade damit beschäftigt gewesen, die Haustür zu untersuchen. Er richtete sich auf und kam zu Lyle. »Ich kann nichts finden, das – lieber Gott!«
Die gesamte Sockelbepflanzung des Hauses – die Rhododendren, Azaleen und Rosmarinbüsche – war tot. Lyle war noch am Tag zuvor nichts an ihnen aufgefallen, aber jetzt waren sie nicht nur einfach verwelkt, sie waren braun und vertrocknet, als wären sie schon vor Monaten abgestorben … als ob irgendetwas jegliches Leben aus ihnen herausgesaugt hätte.
»Jemand muss sie mit Unkrautvernichter eingesprüht haben.«
»Wann hört das endlich auf, Lyle?«
Er hörte Angst in der Stimme seines Bruders und legte eine Hand aufmunternd auf seine Schulter.
»Wir kriegen das schon in den Griff, Charlie. Uns ist es niemals leicht gemacht worden, und ich vermute, dies hier ist keine Ausnahme von dieser Regel. Aber wir haben es am Ende immer wieder geschafft, oder? Irgendwie behalten die Kenton-Brüder am Ende die Nase immer oben. Wir halten zusammen, und wir werden auch mit diesem Problem fertig, Charlie.«
Charlie lächelte ihn an und hob die Hand für einen High Five. Lyle schlug mit der Hand gegen die seines Bruders.
Aber als er sich zum Vorgarten umdrehte, spürte er, wie rasende Wut sein Blut zum Kochen brachte.
Wer immer du bist, dachte er, mach nur weiter, und versuch mit mir, was du willst, aber tu bloß meinem kleinen Bruder nichts. Wenn ihm etwas zustößt, dann jage ich dich und zerquetsche dich wie ein hässliches Insekt.
Er betrachtete die abgestorbenen Pflanzen. Die Teilnehmer der ersten Sitzung des Tages würden in weniger als einer Stunde eintreffen, und Anwesen und Haus sahen erbärmlich aus. Doch er hatte für irgendwelche kosmetischen Maßnahmen keine Zeit.
Scheiße. Er hatte wirklich nicht erwartet, von der Konkurrenz mit offenen Armen empfangen zu werden, als er von Dearborn hierher umgezogen war. Aber mit so etwas wie diesem hier hatte er auch nicht gerechnet. Jemand bediente sich jedes schmutzigen Tricks unter der Sonne, um sie zu vertreiben.
Nun, sie würden nicht nachgeben. Versuch, was du willst, wer immer du bist. Die Kenton-Brüder halten die Stellung auf Gedeih und Verderb.
3
»Du hast nichts gespürt?«, wollte Jack wissen.
Abe
Weitere Kostenlose Bücher