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HMJ06 - Das Ritual

HMJ06 - Das Ritual

Titel: HMJ06 - Das Ritual Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Paul Wilson
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genug.«
     
    In der
    Zwischenwelt
     
    Andere, weniger beängstigende Erinnerungen waren zu dem Namenlosen und Heimatlosen zurückgekehrt … Ansichten von hohen Gebäuden und sonnendurchfluteten Hinterhöfen, alles so qualvoll vertraut und dennoch so unendlich und vollkommen unerreichbar.
    Aber so tröstlich diese Erinnerungen auch sind, sie lindern nicht den allgegenwärtigen Zorn. Was sie verkörpern, ist verschwunden, und dieses Gefühl des Verlustes steigert den Zorn. Das Einzige, das diese Wut in Schach hält, sie daran hindert, das Namenlose voll und ganz auszufüllen und explodieren zu lassen, ist Verwirrung, Einsamkeit … und Hoffnungslosigkeit.
    Wenn es Augen hätte, würde es weinen.
    Immer noch unfähig, seine Identität und seinen Aufenthaltsort zu bestimmen, erahnt es vage einen bestimmten Zweck in seinem Erwachen. Ebenso wie die Quelle der flüchtigen Erinnerungsfetzen bleibt das Wesen des Zwecks verborgen. Doch es ist vorhanden, es wächst, reift heran. Schon bald wird es, genährt von der Wut, aufblühen.
    Und dann muss irgendjemand, irgendetwas sterben …
     
    Zu nächtlicher
    Stunde
     
    Lyle erwachte von Musik … ein Klavier … etwas Klassisches. Die leise Melodie klang irgendwie vertraut, doch er konnte sie nicht erkennen. Er hatte einige klassische CDs als Hintergrundmusik für das Wartezimmer angeschafft, hatte sie jedoch ganz wahllos ausgesucht und sie sich nie bewusst angehört. Er hatte noch nie verstanden, weshalb Menschen klassische Musik liebten. Andererseits konnte er aber auch nicht verstehen, weshalb Menschen gerne Scotch tranken.
    Charlie? Undenkbar. Das war nicht seine Musik. Außerdem lag Charlie im Bett. Er war von seinem Ausflug mit Jack zurückgekommen und hatte wie ein Wasserfall davon geredet, wie schachmatt er sei, wie sie alles vorbereitet hatten, um Madame Pomerol ihre Gemeinheiten heimzuzahlen, und wie sehr er sich wünschte, dabei zu sein, wenn es so weit wäre. Aber danach gewann bei ihm die Müdigkeit die Oberhand, und er sagte schnell gute Nacht.
    Lyle schleuderte das Laken beiseite und schwang die Füße aus dem Bett. Er wollte gar nicht wissen, wie spät es war. Es war auf jeden Fall zu spät, egal woher die Musik kam. Er hatte es aufgegeben, dafür zu sorgen, dass die Fenster geschlossen blieben, daher hatte er die Klimaanlage abgeschaltet und sich bei offenen Fenstern schlafen gelegt. Trotzdem war die Temperatur im Augenblick durchaus angenehm.
    Aber was war mit dieser Musik? Ständig erklang dieselbe Melodie.
    Hatten Madame Pomerol und ihr Mann sich etwa auch an seiner Musikanlage zu schaffen gemacht? Nach dem vorangegangenen Tag hoffte er, das allerletzte Mal mit ihnen zu tun gehabt zu haben.
    Während Lyle die Treppe hinunterpolterte und den Weg zum Wartezimmer einschlug, fiel ihm an der Musik etwas auf. Sie klang irgendwie ziemlich dünn … Offenbar wurde sie von einem Klavier allein gespielt. Wo waren die Streicher und das restliche Orchester? Und dann dämmerte es ihm, dass das, was er hörte, nicht von einer CD kam … Es wurde hier gespielt, gerade jetzt … Jemand saß im Wohnzimmer am Klavier.
    Er platzte in den Raum und blieb stocksteif in der Tür stehen. Die Beleuchtung war gelöscht. Das einzige Licht war der schwache Widerschein der Straßenlaternen, der durch die offene Haustür hereindrang. Eine dunkle Gestalt saß auf dem Klavierhocker und ließ die Finger über die Tasten gleiten.
    Lyles Zittern vom Vorabend meldete sich wieder. Nun hingegen war die Ursache eher Angst als ein Adrenalinschub, während er die Hand nach dem Lichtschalter ausstreckte. Er fand ihn, zögerte und betätigte ihn dann.
    Er stöhnte erleichtert auf, als er Charlie mit dem Rücken zu ihm auf dem Klavierstuhl sitzen sah. Charlies Kopf war abgewendet, die Augen waren geschlossen, und um seine Lippen spielte der Anflug eines Lächelns, während seine Finger über die Tasten eilten. Er schien offenbar großen Spaß an seinem Spiel zu haben.
    Sein Gesichtsausdruck erzeugte bei Lyle ein Gefühl, als schütte ihm jemand Eiswasser über den Rücken.
    »Charlie?«, fragte er, schloss die Haustür und kam näher. »Charlie, was tust du da?«
    Er öffnete die Augen. Sie waren glasig. »Ich spiele ›Für Elise‹. Mein Lieblingsstück.« Charlies Stimme …, aber nicht seine Ausdrucksweise. Er sah aus, als wäre er in seine vorreligiöse Zeit zurückgekehrt, als er jeden Tag mindestens zwei Trottel ausgenommen hatte.
    Aus dem eisigen Rieseln auf seinem Rücken wurde ein

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