HMJ06 - Das Ritual
reißender Strom. Charlie konnte nicht Klavier spielen. Und selbst wenn er es könnte, würde er niemals diese schmalzige Melodie mit dem spaßigen Titel klimpern.
Lyle spürte seine Zunge dick und klebrig in seinem Mund. »Wann hast du Klavierspielen gelernt, Charlie?«
»Meine erste Stunde hatte ich mit sechs.«
»Nein, die hattest du nicht.« Er legte eine Hand auf die Schulter seines Bruders und schüttelte ihn behutsam. »Das weißt du auch selbst. Was für eine Nummer ziehst du hier ab?«
»Ich übe.« Er steigerte das Tempo. »Ich muss dieses Stück für meine Aufführung vollkommen beherrschen.«
»Hör damit auf, Charlie!«
Er spielte schneller, seine Finger flogen förmlich über die Tasten. »Nein, ich muss das Stück mindestens zwanzigmal am Tag spielen, um sicher sein zu können …«
Lyle gab sich einen Ruck und packte die Handgelenke seines Bruders. Er wollte sie von den Tasten wegziehen, aber sein Bruder wehrte sich dagegen. Schließlich setzte Lyle sein gesamtes Körpergewicht und seine Kraft ein.
»Charlie. Bitte!«
Sie lösten sich beide vom Klavier, wobei Charlie rücklings vom Klavierhocker kippte und auf dem Fußboden landete. Lyle schwankte, blieb aber auf den Beinen.
Für einen kurzen Moment starrte Charlie ihn vom Fußboden aus an. In seinen Augen loderte die nackte Wut, dann entspannte sich sein Gesicht.
»Lyle?«
»Charlie, was um alles …?« Dann entdeckte Lyle das Blut auf seiner Hemdbrust. »O mein Gott! Was ist passiert?«
Charlie sah ihn verwirrt an. »Was geht hier vor, Bruder?«
Er machte Anstalten aufzustehen, aber Lyle stieß ihn zurück. »Rühr dich nicht! Du bist verletzt!«
Charlie blickte hinunter auf den roten Fleck vorn auf seinem Hemd, dann sah er wieder hoch.
»Lyle?« In seinen Augen flackerte Angst. »Lyle, was …?«
Lyle gab sich alle Mühe, nicht den Kopf zu verlieren. Seinem kleinen Bruder war etwas Furchtbares zugestoßen. Sie hatten so viel gemeinsam erlebt, durchgemacht, und jetzt … jetzt …
Er wollte zum Telefon, um den Rettungsdienst zu alarmieren, wollte aber Charlie nicht allein seinem Schicksal überlassen. Es gab vielleicht etwas, das er tun konnte, das er jetzt sofort tun musste, um ihn am Leben zu halten, bis Hilfe eintraf.
»Zieh dein Hemd aus und lass mich nachsehen. Vielleicht ist es gar nicht so schlimm.«
»Lyle, was ist los mit dir?«
Lyle wollte sich das überhaupt nicht ansehen. Wenn es nur halb so schlimm war, wie es auf den ersten Blick erschien, wäre es immer noch furchtbar. Er zerrte Charlies Hemd hoch …
Und konnte nur die Augen aufreißen.
Die Haut auf der Brust war unversehrt und wies keinerlei Blutspuren auf. Lyle fiel vor ihm auf die Knie und strich mit den Fingerspitzen über die Brust seines Bruders.
»Was, verdammt noch mal …«
Wo war all das Blut hergekommen? Er schob das Hemd wieder nach unten und atmete zischend aus, als er feststellte, dass es völlig sauber und trocken und so schneeweiß wirkte, als wäre es gerade frisch gewaschen und gebügelt worden.
»Lyle?« In Charlies Augen erschien jetzt eine ganz andere Art von Angst. »Was geschieht hier? Ist das Ganze ein Traum? Ich ging ins Bett, und als ich aufwachte, lag ich auf dem Fußboden.«
»Du hast Klavier gespielt.« Lyle erhob sich mühsam und half Charlie hoch. »Erinnerst du dich nicht?«
»Ganz und gar nicht. Ich weiß, dass ich nicht …«
»Aber du hast Klavier gespielt. Und sogar ziemlich gut.«
»Aber wie?«
»Ich wünschte, ich wüsste es, verdammt noch mal.«
Charlie umklammerte seinen Arm. »Vielleicht ist es das. Vielleicht ist durch den Erdspalt im Keller die Hölle in dieses Haus eingedrungen. Wenn man bedenkt was hier im Laufe der Jahre geschehen ist. Was immer es ist, es hat es auf dich abgesehen und erwischt dich am Ende.«
Lyle wollte seinen Bruder zurechtweisen, wollte sagen, er solle mit diesem Blödsinn aufhören, als sich die Haustür wie von Geisterhand entriegelte und aufschwang.
Sonntag
1
Gia spülte das Frühstücksgeschirr. Es war eine Tätigkeit, die ihr normalerweise nichts ausmachte, aber heute … Rühreireste aus einer Bratpfanne zu kratzen, ließ ihren ohnehin schon angegriffenen Magen gründlich revoltieren. Die
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