HMJ06 - Das Ritual
verblüfft, der Ladeninhaber hatte Gia die Flasche sogar sozusagen als kleine Aufmerksamkeit schenken wollen. Und die beiden anderen Kunden in der Warteschlange hinter ihr hatten sie angestarrt, als wollten sie fragen: »Von was für einem Planeten kommen Sie denn?«
»Warum hast du die Flasche nicht einfach behalten, Mom?«, hatte Vicky gefragt.
»Weil sie nicht mir gehört hat.«
»Aber niemand hätte es gemerkt.«
»Du hast es gemerkt. Und als du es mir sagtest, wusste auch ich Bescheid. Deshalb wäre ich zur Diebin geworden, wenn ich sie behalten hätte. Und ich will keine Diebin sein.«
Vicky hatte diese Feststellung mit einem verstehenden Kopfnicken quittiert und dann angefangen, von dem toten Vogel zu erzählen, den sie am Tag zuvor gefunden hatte.
Ein Leben zu führen, wie sie es sich für Vicky wünschte, bedeutete, Opfer bringen zu müssen. Es bedeutete, dass sie nicht zu Jack ziehen konnte und Jack nicht zu ihr. Denn falls Vicky als Sechzehnjährige eines Tages fragen sollte, ob ihr Freund in ihrem Zimmer übernachten dürfe, wollte Gia ihrer Tochter in die Augen blicken können, wenn sie ihr dies nicht erlaubte.
Wie in aller Welt konnte Gia ihrer Tochter ihre Liebe zu Jack erklären? Sie konnte sie sich ja noch nicht einmal selbst plausibel machen. Jack setzte sich über alle Regeln hinweg, pfiff auf sämtliche grundlegenden gesellschaftlichen Konventionen, und dennoch … Er war der anständigste, moralischste, wahrhaftigste Mann, den sie kennen gelernt hatte, seit sie aus Iowa weggegangen war.
Aber sosehr sie ihn auch liebte, sie war sich nicht ganz sicher, ob sie auch mit ihm zusammen leben wollte. Oder überhaupt mit jemandem. Sie liebte ihren Freiraum, und den hatten sie und Vicky im Haus am Sutton Square in Hülle und Fülle. Dieses sündteure, eichengetäfelte, mit Antiquitäten gefüllte East-Side-Anwesen gehörte der Familie Westphalen, deren letzter lebende Nachkomme Vicky war. Ihre Tanten hatten ihr dieses Stadthaus und den größten Teil ihres beträchtlichen Vermögens laut Testament hinterlassen, aber sie galten bislang nur als vermisst und nicht als verstorben. Es würde Jahre dauern, bis das Haus und das übrige Vermögen offiziell Vicky gehörte. Doch bis dahin räumte der Testamentsvollstrecker ihnen unbegrenztes Wohnrecht ein, um das Anwesen in Schuss zu halten.
Das Fazit war: Falls Gia und Jack sich jemals für eine räumliche Gemeinsamkeit entscheiden würden, zögen nicht sie und Vicky in Jacks kleine Zweizimmerwohnung um. Er käme hierher. Nachdem sie geheiratet hätten.
»Was tun wir also?«, fragte er.
Sie bestrich eine Brötchenhälfte mit Butter und legte sie ihm auf den Teller. »Wir machen weiter wie bisher. Ich bin dabei glücklich und zufrieden. Du etwa nicht?«
»Klar.« Er lächelte sie an. »Aber ich wäre sicherlich noch glücklicher, wenn ich jeden Morgen neben dir aufwachte.«
Das würde ihr sehr gut gefallen. Aber alles andere … Sie war sich nicht so sicher, ob sie damit so einfach klarkäme, wenn sie ihr Leben mit Jack teilte. Er hatte einen geradezu bizarren Tagesablauf, war manchmal, wenn sein jeweiliger Job es verlangte, nächtelang unterwegs. Sie bekam dies meistens erst im Nachhinein mit. Oft genug schlief sie in dem Glauben ein, er sitze sicher und geborgen in seiner kleinen Wohnung und sehe sich einen seiner seltsamen alten Kinofilme an. Wenn sie mit Jack zusammenlebte, würde sich all das grundlegend ändern. Sie würde dann wach in ihrem Bett liegen und sich den Kopf zermartern, wo er sich gerade aufhielt, ob er gerade in Gefahr schwebte … Und sie würde stumme Gebete zum Himmel schicken, dass er heil wieder nach Hause käme, ja, dass er überhaupt heimkehren solle.
Sie wäre schon bald ein nervliches Wrack. Und sie wusste nicht, ob sie das auf die Dauer würde ertragen können.
Da war es so schon besser. Zumindest vorläufig. Aber was wäre, wenn …?
Gia unterdrückte einen gequälten Seufzer. Wenn sie doch nur das Ergebnis des Schwangerschaftstests schon kennte. Sie hatte, während sich Jack in der Bibliothek befand, heimlich Dr. Eagletons Bereitschaftsdienst angerufen und erfahren, dass die Ärztin erst am Montag wieder in der Praxis zu erreichen sei. Für den Notfall wurde ihr die Telefonnummer des Arztes genannt, der sich schon einmal geweigert hatte, ihr die gewünschte Auskunft zu geben. Daher machte sich Gia gar nicht erst die Mühe, ihn erneut anzurufen. Sie würde wohl bis zum nächsten Tag warten müssen.
Verstohlen
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