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HMJ06 - Das Ritual

HMJ06 - Das Ritual

Titel: HMJ06 - Das Ritual Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Paul Wilson
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Eier hatte sie für Jack zubereitet. Sie hatte sie aufgeschlagen und Streifen aus Sojaspeck darunter gemischt. Er hatte nicht gefragt, ob er echten Speck aß, und sie hatte es ihm nicht gesagt. Nicht dass es ihm etwas ausgemacht hätte. Jack aß so gut wie alles. Manchmal, wenn er sich in seiner »fleischigen« Phase befand, beschwerte er sich über zu viel Gemüse und Salat. Aber er versäumte es nur höchst selten, seinen Teller zu leeren. Er war ein braves Kind. Sie brauchte ihn niemals an die hungernden Kinder in China zu erinnern.
    Er hatte erzählt, er habe an diesem Vormittag einen Termin mit einem neuen Kunden – jemand, der erklärte, er könne nicht bis Montag warten –, und hatte sich in die kleine gemütliche Bibliothek des Stadthauses zurückgezogen, um sich noch ein wenig die Zeit zu vertreiben, ehe er aufbrechen musste.
    »Wie wär’s mit einem kleinen Imbiss?«, fragte er, als er wieder zurückkam.
    Sie hob den Kopf und lächelte ihn an. »Du hast vor einer Stunde gefrühstückt.«
    Er rieb sich den Bauch. »Ich weiß, aber ich brauche jetzt eine Kleinigkeit.«
    »Da ist noch ein Brötchen übrig.«
    »Super.«
    »Du hast wohl wieder in einem von Vickys Büchern gelesen, nicht wahr?«
    »Richtig. Ich glaube, es war die Geschichte von der Bärenfamilie beim Picknick.«
    »Na schön. Dann hör auf, hier den Papa Bär zu spielen, und ich backe es dir auf.«
    Er setzte sich. »Eine Woche dieses Leben, und du kriegst mich nicht mehr aus dem Haus.« Er sah sie prüfend an. »Es war doch gar nicht so übel, wenn ich bleiben würde, oder?«
    O nein. Ihr ständig wiederkehrendes Reizthema: ob sie zusammenziehen sollten oder nicht.
    Jack war dafür, und er hatte es seit dem vergangenen Jahr immer wieder – behutsam, aber beharrlich – zur Sprache gebracht. Er wollte eine größere Rolle in Vickys Leben spielen, wollte die Art von Vater für sie sein, die ihr richtiger Vater niemals gewesen war.
    »Das wäre wunderbar«, sagte Gia. »Sobald wir verheiratet sind.«
    Jack seufzte. »Du weißt genau, dass ich dich auf der Stelle heiraten würde, wenn ich könnte, aber …«
    »Aber du kannst nicht. Weil jemand, der offiziell gar nicht existiert, keine Heiratserlaubnis beantragen kann.«
    »Ist denn ein Fetzen Papier so wichtig?«
    »Wir haben das doch schon mehrmals durchgehechelt, Jack. Das Heiraten wäre gar nicht so wichtig, wenn ich nicht Vickys Mutter wäre. Aber ich bin es. Und Vickys Mutter hat keinen Lebensabschnittspartner oder Hausfreund oder festen Bekannten oder wie immer der heutzutage gültige Ausdruck für so etwas lautet.«
    Eine höchst altmodische Einstellung. Gia gab das bereitwillig zu, und sie hatte kein Problem damit. Die Werte, nach denen sie ihr Leben ausrichtete, waren keine Wetterfähnchen, die ihre Richtung mit jeder noch so unbedeutenden Veränderung der gesellschaftlichen Gepflogenheiten änderten. Stattdessen waren sie das Fundament, auf dem sie aufgewachsen war und das für sie noch immer eine solide Grundlage ihres Daseins bildete. Sie steckten ihren Lebensraum, ihr Biotop ab. Sie hatte kein Interesse daran, sie anderen Menschen aufzuzwingen, wollte andererseits aber auch nicht, dass ihr jemand anderer Vorschriften machte, wie sie ihr Kind aufziehen solle.
    Sie schwor darauf, ein Kind dadurch zu erziehen, dass man sich ihm als gutes Beispiel präsentierte. Konsequent praxisbezogen, Regeln und Grenzen setzend, sich aber gleichzeitig an diese Regeln haltend. Nicht nach dem Motto »Tu was ich sage und achte nicht auf das, was ich tue«. Wenn Gia von Vicky verlangte, dass sie stets die Wahrheit sagte, dann durfte Gia niemals lügen. Wenn Gia wollte, dass Vicky ehrlich war, dann durfte Gia niemals schwindeln oder mogeln.
    Das perfekte Beispiel für diese Grundhaltung hatte sich in der Vorwoche ergeben, als sie und Vicky in einem Spirituosenladen eingekauft hatten. Da sie wusste, dass Jack sie während Vickys Abwesenheit häufiger besuchen würde, hatte Gia einen Kasten Bier und ein paar Flaschen Wein in den Einkaufswagen gepackt. Während sie den Laden verließen, hatte Vicky ihrer Mutter zugeflüstert, dass die Kassiererin es versäumt hatte, eine der Flaschen über den Strichcodescanner zu ziehen. Gia hatte ihren Kassenzettel überprüft, und tatsächlich, ihre Tochter, der so gut wie nie etwas entging, hatte auch diesmal Recht gehabt. Daraufhin hatte sie sofort kehrtgemacht, die Kassiererin auf den Irrtum hingewiesen und die Flasche nachträglich bezahlt. Die Kassiererin war

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