HMJ06 - Das Ritual
beobachtete sie, wie Jack hungrig sein Brötchen verzehrte. Sie dachte: Wenn der Test nun positiv ist, wie wirst du reagieren?
2
»Das ist völlig verrückt, Mann!« Charlie knallte die Zeitung so heftig auf den Frühstückstisch, dass Teller und Tassen einen klirrenden Tanz aufführten. »Absolut irre!«
Lyle schaute über den Rand des Sportteils der Times auf seinen Bruder. »Ist alles okay?«
Seit der seltsamen Episode in der vorangegangenen Nacht machte er sich Sorgen wegen Charlie. Doch der schien keinen Gedanken daran zu verschwenden. Wahrscheinlich glaubte er gar nicht, dass er Klavier gespielt hatte. Er dachte wohl, dass Lyle wieder mal einen seiner Albträume gehabt hatte.
Und wer sollte es ihm übel nehmen? Vor allem nachdem Lyle behauptet hatte, seine Brust voller Blut gesehen zu haben, und anschließend auch nicht den geringsten Kratzer gefunden hatte. Aber dies war schon das zweite Mal, dass er Charlie mit einer tiefen Wunde in der Brust gesehen hatte. Er glaubte nicht an Vorahnungen, und angesichts dessen, was er gesehen hatte, wollte er jetzt auch nicht damit anfangen.
Während er hier in der Sonne saß und ein warmer Sommerwind durch die – natürlich – offenen Fenster hereinwehte, erschien es ziemlich albern, sich den Kopf über irgendein zukünftiges Unheil zu zerbrechen.
»Sieh dir das an«, sagte Charlie, dessen Miene eine Mischung aus Wut und Abscheu ausdrückte, während er die aufgeschlagene News über den Tisch schob. »Der Artikel oben rechts.«
Als Lyle die Überschrift las, hatte er eine böse Vorahnung – ja –, wovon der Artikel handelte. Der erste Satz bestätigte es.
SIE HÄTTE ES WISSEN MÜSSEN
Elizabeth Foster, bei verschiedenen wohlhabenden Bewohnern Manhattans auch als Madame Pomerol, Wahrsagerin und Medium, bekannt, wurde in der vergangenen Nacht im Bankenviertel aufgegriffen. Bekleidet war sie lediglich mit einem Stück Pappe, das ihre Blöße nur notdürftig verhüllte. Ihr Ehemann Carl befand sich in einem ähnlichen Bekleidungszustand. Das Ehepaar erklärte, dass sie während der Rückfahrt zu ihrem Haus auf der Upper East Side von bösen Geistern, deren Zorn sie sich zuvor zugezogen hätten, aus ihrem Automobil – und aus ihren Kleidern – »apportiert« worden seien. Die Geister hätten sie durch die Nacht geschleudert und nackt in Lower Manhattan ausgesetzt. Madame Pomerol führte weiter aus, dass bestimmte Geister nicht gut auf sie zu sprechen seien, da sie sie gezwungen hätte, zahlreiche Gegenstände zurückzugeben, die sie zuvor ihren Kunden entwendet hätten.
»Das fasse ich nicht!«, rief Lyle und starrte Charlie an. »Sie benutzt die ganze Geschichte, um für sich Werbung zu machen!«
Er las weiter …
Vor zwei Jahren war Madame Pomerol lediglich eins von vielen spiritistischen Medien, die den allgemeinen Esoterik-Trend ausnutzten, bis sie in der Late Show David Lettermans auftrat. Obgleich Letterman ihre Ausführungen über übersinnliche Phänomene eher ironisch kommentierte, lenkte sie durch den Auftritt das allgemeine Interesse auf sich und wurde zu einem der prominentesten und erfolgreichsten Medien in ganz New York.
Trotz der von ihr beschworenen eigenen übersinnlichen Fähigkeiten konnte Madame Pomerol jedoch keinerlei Hinweise über den Verbleib ihres Automobils liefern. Die Polizei musste sie davon in Kenntnis setzen, dass sie den Wagen kurz nach ihr gefunden hätte, und zwar nicht auf der Upper East Side, wo sie angeblich herausgeholt worden sei, sondern in der Chambers Street, nicht weit von der Stelle, wo das Ehepaar aufgefunden worden war.
»Die Geister müssen den Wagen apportiert haben, nachdem sie uns entführt hatten«, sagte Madame Pomerol.
Die Wahrsagerin konnte nicht schlüssig erklären, was ihr angeblich zugestoßen war. Ebenso wenig konnte sie die Existenz der Pistole Kaliber .32 erklären, die im Kofferraum ihres Wagens entdeckt wurde. Sie äußerte lediglich: »Die bösen Geister müssen sie dort deponiert haben. Sie wollten mich auf diese Art und Weise in Schwierigkeiten bringen, weil sie in mir ihre Meisterin gefunden haben.«
Auf eine Anklage wegen unerlaubten Waffenbesitzes wurde diesmal noch verzichtet, doch die Polizei behält sich diesen Schritt vor, je nachdem, was die Nachforschungen über die Herkunft der Waffe ergeben werden.
»Die beiden sollten auf jeden Fall angeklagt werden!«, schimpfte Lyle. »Schließlich wollten sie mich mit dieser Knarre umbringen!«
»Sie ist ziemlich
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