HMJ06 - Das Ritual
wendig, die Alte, nicht wahr?«, stellte Charlie fest.
»Ja. Vielleicht zu wendig.«
Die Hexe hatte aus einem Denkzettel an ihre Adresse offenbar einen Reklamegag gemacht. Lyle fragte sich unwillkürlich, ob er selbst raffiniert genug gewesen wäre, in einer ähnlichen Situation das Gleiche zu tun.
Charlie meinte: »Naja, wenigstens hat sie außer uns jetzt noch etwas anderes am Hals.«
»Ja. Sie und ihr Göttergatte müssen sich wegen dieser Waffe was überlegen. Aber selbst wenn sie deswegen Ärger kriegen sollten, dürfte ihnen die augenblickliche Publicity genug neue Leute einbringen, so dass sie sich nicht mehr für die Kunden interessieren werden, die wir ihnen abspenstig gemacht haben.«
Charlie grinste. »Über einen ganz bestimmten neuen Kunden, der heute zu ihr kommt, dürfte sie sich nicht allzu sehr freuen, wenn du verstehst, wen ich meine.«
»Du meinst Jack.«
»Ja, meinen Freund Jack.«
»Du magst ihn, nicht wahr?«
Charlie nickte. »Als ich ihn zum ersten Mal sah, dachte ich noch: Dieser Typ will unseren Arsch retten? Nee, niemals. Aber ich hab mich geirrt. Und zwar gründlich. In seinen Spießerklamotten sieht er erst total harmlos aus, aber in Wirklichkeit ist er die reinste Granate, Bruder.«
Lyle verspürte einen Anflug von Eifersucht, als er den Unterton aufrichtiger Bewunderung in der Stimme seines Bruders hörte.
»Glaubst du, er schafft es, Madame Pomerol in ihre Schranken zu weisen?«
Charlie zuckte die Achseln. »Gestern zumindest hat er sie in ihre Schranken verwiesen. Als wir in ihrem ›Tempel‹ waren, haben wir mal einen Blick auf ihren Terminkalender geworfen. Sie hat für heute Nachmittag eine Sitzung mit vier Kunden angesetzt. Jack wird versuchen, unter einem Vorwand ebenfalls daran teilzunehmen.« Er grinste. »Und wenn er das schafft, dann wird’s richtig lustig, wenn du weißt, was ich meine.«
»Wir sollten auch am Sonntag Sitzungen veranstalten«, sagte Lyle. Sie hatten schon unzählige Male fruchtlos darüber diskutiert, aber er musste dieses Thema immer wieder zur Sprache bringen. »Das wäre ein großes Geschäft für uns. Die Leute sind zu Hause, es ist ein religiöser Feiertag, und wenn sie nicht in die Kirche gehen, dann kommen sie vielleicht zu uns.«
Charlies Grinsen versiegte. »Ich hab’s dir gesagt, Lyle: Wenn du Sonntags Sitzungen veranstaltest, dann musst du das ohne mich tun. Ich hoffe, dass mir irgendwann verziehen wird, was ich an den anderen sechs Tagen der Woche tue, aber ich weiß ganz genau, dass ich in der Hölle schmoren werde, wenn ich das gottesfürchtige Volk davon abhalte, am Sonntag den Herrn zu preisen. Falls ich überhaupt jemals …«
Lyle zuckte erschrocken zusammen, als im Zimmer nebenan plötzlich eine Stimme erklang. Er umklammerte die Tischkante mit beiden Händen und hatte sich bereits halb von seinem Stuhl erhoben, als er Bugs Bunnys unverwechselbares Organ erkannte.
»Der Fernseher«, stieß er hervor und spürte, wie sich seine Muskeln entspannten. Aus irgendeinem Grund lief er plötzlich. Er sah Charlie an. »Hast du etwa die Fernbedienung in der Hosentasche?«
Charlie schüttelte den Kopf. »Ganz bestimmt nicht. Ich habe sie nicht mal angerührt.«
Beim Klang von Schüssen erschraken sie beide, dann begriff Lyle, dass auch diese aus dem Fernseher kamen. Er hätte am liebsten gelacht. Aber er konnte das Ganze gar nicht lustig finden. Das Fernsehzimmer war das, was vom alten Esszimmer übrig geblieben war. Letzteres war früher die Verbindung zum jetzigen Wartezimmer gewesen, doch sie hatten im Zuge des Umbaus die Türöffnung zugemauert. Daher führte der einzige Weg ins Fernsehzimmer durch die Küche.
Lyle starrte seinen Bruder einen unbehaglichen Moment lang an, dann schnappte er sich ein Küchenmesser und stand auf. Eigentlich war es unmöglich, dass sich jemand in dem Zimmer aufhielt, doch es schadete nie, auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein.
»Mal sehen, was da los ist.«
Das Messer locker in Höhe seiner Oberschenkel in der Hand balancierend, ging Lyle nach nebenan, fand das Zimmer jedoch leer vor. Auf dem Bildschirm lachte eine frühe Version von Bugs Bunny einen mit einer Schrotflinte herumfuchtelnden Eimer Fudd aus. Lyle entdeckte das Logo des eingestellten Kanals, Cartoon Network, in der rechten unteren Ecke des Schirms.
»Hast du dir wieder mal Zeichentrickfilme angesehen?«, wollte er von Charlie wissen.
»Das tu ich schon seit einer halben Ewigkeit nicht mehr.«
Lyle sah sich suchend um und
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