HMJ06 - Das Ritual
als das vorherige, hängten sich ans Ende der Frage an.
Wer bist du????
»Ich … ich bin Lyle«, krächzte er. Das Ganze ist ein Traum, also spiel einfach mit. »Wer bist du?«
Ich weiß es nicht
»Warum bist du hier?«
Die gleichen Worte erschienen.
Ich weiß es nicht. Ich habe Angst. Ich will nach Hause
»Wo ist dein Zuhause?«
ICH WEISS ES NICHT
Dann prallte etwas mit derartiger Wucht gegen den Spiegel, dass die Wände erbebten und in der Mitte des Spiegels ein basketballgroßes Spinnennetz feiner Sprünge entstand. Das Licht erlosch, ein eisiger Hauch wehte durch das Badezimmer und verwandelte das feuchte Regenwaldklima in arktische Kälte. Lyle machte einen Schritt zur Wand, um den Lichtschalter zu suchen, doch sein nackter Fuß landete in einer Wasserpfütze. Er rutschte aus und stürzte, während ein weiterer krachender Aufprall stattfand und wieder den Spiegel traf. Nach einem dritten Schlag wurde Lyle mit Glassplittern überschüttet. Er kauerte auf den Knien mit der Stirn auf dem Fußboden und legte die Hände schützend über seinen Hinterkopf, während was immer sich da mit ihm im Raum befand in sinnloser Wut auf den Spiegel einhämmerte.
Um genauso plötzlich, wie es begonnen hatte, seine Attacken einzustellen.
Langsam, vorsichtig, hob Lyle den Kopf in der Dunkelheit.
Irgendwo im Haus – auf dem Flur – hörte er hastige Laufschritte und dann die Stimme seines Bruders.
»Lyle! Lyle! Bist du okay?« Das Licht im Schlafzimmer ging an. »Mein Gott, Lyle, wo bist du?«
»Hier drin!«
Er richtete sich auf die Knie auf, fand jedoch weder die Kraft noch den Willen, ganz aufzustehen. Noch nicht.
Er hörte Charlie näher kommen und rief: »Komm nicht rein! Der Fußboden ist voller Glasscherben! Greif nur herein und knips das Licht an!«
Lyle wandte der Tür den Rücken zu. Als die Beleuchtung anging, schaute er über die Schulter und sah seinen Bruder, der ihn mit großen Augen und offenem Mund anstarrte.
»Verdammt noch mal …«, setzte Charlie an, dann fing er sich. »Lieber Himmel, Lyle, was hast du getan?«
Dass Charlie ein Wort benutzte, das er aus seinem Sprachgebrauch verbannt hatte, seit er wiedergeboren war, verriet Lyle, wie tief der Schock bei seinem Bruder saß. Wenn er sich umsah, konnte er es ihm nicht verdenken. Unzählige winzige Glassplitter bedeckten den Fußboden. Der große Spiegel sah aus, als hätte Shaquille O’Neal einen Basketball aus Granit dagegen gewuchtet.
»Das war ich nicht.«
»Wer dann?«
»Keine Ahnung. Hol mal eine Decke und leg sie auf den Fußboden, damit ich hier rauskomme, ohne meine Füße in Hackfleisch zu verwandeln.«
Während Charlie auf die Suche ging, kam Lyle mühsam auf die Füße und achtete darauf, auf dem scherbenfreien Teil des Fußbodens stehen zu bleiben.
Charlie erschien mit der gewünschten Decke. »Die ist zwar ziemlich dünn, aber …«
Er verstummte, während ein Ausdruck des Horrors seine Miene verzerrte.
»Was ist?«
Charlie deutete mit einem zitternden Finger auf Lyles Brust. »O Gott, Lyle, du – du hast dich verletzt!«
Lyle blickte an sich hinab und spürte, wie seine Knie weich wurden, als er sah, dass die Vorderseite seines T-Shirts mit Blut getränkt war. Er zog das Hemd hoch, und diesmal gaben seine Knie endgültig nach. Sie knickten ein, und er sank zu Boden, als er den tiefen Schnitt in seiner Brust sah, so tief, dass er in der Öffnung sein krampfartig pulsierendes Herz sehen konnte.
Er starrte zu Charlie hoch, nahm das Entsetzen in dessen Augen wahr, formte mit den Lippen ein, zwei Worte, doch seine Stimme streikte. Er blickte wieder auf seine Brust …
Und sie war heil. Unversehrt. Sauber. Kein Loch, kein Blut, nicht ein Tropfen auf seiner Haut unter dem Hemd.
Genauso, wie er es in der vergangenen Nacht bei Charlie erlebt hatte.
Er sah seinen Bruder an. »Du hast es gesehen, ja? Sag mir, dass du es diesmal gesehen hast.«
Charlie nickte mit dem Kopf wie eine Spielpuppe. »Ich hab’s gesehen, ich hab’s gesehen! Ich dachte, du hättest letzte Nacht einen Witz gemacht, aber jetzt … Ich meine, was …?«
»Leg die Decke hin. Ich will hier raus.«
Charlie hielt ein Ende der Decke fest und warf das andere Ende zu Lyle hinüber. Sie breiteten sie auf dem mit Glassplittern übersäten Fußboden aus, und Lyle kroch – er vertraute nicht darauf, dass seine Beine ihn tragen würden, daher kroch er – zur Tür.
Als er den Teppich erreichte, verharrte Lyle in seiner Kriechhaltung, kauerte sich zusammen
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