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HMJ06 - Das Ritual

HMJ06 - Das Ritual

Titel: HMJ06 - Das Ritual Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: F. Paul Wilson
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haben würden. So etwas war ihr schon zweimal zugestoßen, ehe Vicky geboren wurde.
    Dann war da die Frage, wie er darauf reagieren würde. Sie kannte Jack wahrscheinlich besser als jeder andere Mensch auf der Welt. Sogar besser als Abe. Aber sie war sich trotzdem nicht sicher, wie er auf lange Sicht mit einer solchen Angelegenheit zurechtkäme.
    Sie wusste, seine erste Reaktion wäre unbändige Freude. Er wäre glücklich für sie und für sich selbst. Ein Baby. Sie wollte sein Lachen, das Leuchten in seinen Augen sehen. Und sie wusste, es würde vielleicht helfen, ihn aus seiner Trauer über den Tod Kates herauszureißen. Ein Leben geht zu Ende, ein anderes beginnt.
    Aber ihn so frühzeitig ins Bild zu setzen, barg einige Risiken. Wenn sie zum Beispiel schon in der nächsten Woche eine Fehlgeburt hätte?
    Jack, du bist ein werdender Vater! Dein erstes Kind ist unterwegs.
    Nein, Moment. Vergiss es. Dein Kind ist tot. Tut mir Leid.
    In Anbetracht der Tatsache, wie niedergeschlagen er in letzter Zeit gewesen war, konnte es da richtig sein, ihn einer solchen emotionalen Achterbahnfahrt auszusetzen? Wäre es nach dem, was er gerade durchgemacht hatte, nicht viel besser zu warten, bis sie sicher sein konnte, dass ihre Schwangerschaft normal verlaufen würde?
    Oder versuchte sie nur, für sich selbst mehr Zeit herauszuschinden, ehe sie es ihm sagen müsste?
    Das waren nur die kurzfristigen Erwägungen. Aber wie sah es mit den längerfristigen aus? Wenn es Jack bewusst wurde, was das Aufziehen eines Kindes, was eine ernsthafte Vaterschaft für seine Unabhängigkeit, seine leidenschaftlich erkämpfte und verteidigte Autonomie bedeutete … was dann? Könnte es sein, dass er den Preis dafür als zu hoch erachtete?
     
     

2
     
    Die gelbe zusammenklappbare Werbetafel stand mitten auf dem Bürgersteig. Die roten Lettern darauf reflektierten die Morgensonne.
     
    ERNIES PASSBILD-SERVICE
    FÜR ALLE ZWECKE
    REISEPÄSSE
    FÜHRERSCHEINE
    TAXI-LIZENZEN
     
    Jack umrundete die Tafel und trat durch die offen stehende Eingangstür in einen winzigen Laden, der bis zur Decke mit winzigen Freiheitsstatuen, Ansichtskarten von New York City, bedruckbaren T-Shirts, Baseballmützen und allem Möglichen, das Ernie an einen Kleiderständer hängen oder in ein Regal hineinpacken konnte voll gestopft war. Verglichen mit Ernies Laden wirkte Abes Geschäftslokal geradezu spartanisch leer.
    »Hey, Ern.«
    Der hagere Mann mit dem traurigen Gesicht hinter der Theke trug ein grelloranges Hawaiihemd und balancierte im klassischen Belmondo-Stil eine Pall-Mall-Zigarette im Mundwinkel. Er blickte auf und zwinkerte Jack zu.
    »Ich komme gleich zu Ihnen, Sir«, sagte er und widmete sich wieder voller Hingabe dem schwierigen Akt, einem betagten Koreaner eine Ray-Ban-Predator-Pilotensonnenbrille zu verkaufen.
    »Ich gebe Ihnen einen Riesenrabatt. Sie sparen richtiges Geld.« Er dehnte das letzte Wort, so gut er es vermochte. »Ich schwöre Ihnen, der Listenpreis für dieses Prachtstück beträgt neunzig Dollar. Ich lasse Ihnen die Brille für fünfzig.«
    »Nein-nein«, erwiderte der alte Mann. »Ich habe weiter unten auf Straße eine für zehn gesehen. Zehn Dollar.«
    »Das ist Ausschussware, oder es sind Kopien. Niemals die echten. Wenn Sie sie heute kaufen, fallen Ihnen schon morgen die Gläser aus dem Rahmen oder die Bügel brechen ab. Aber diese hier, mein Freund, das ist die echte, die wahre Ray Ban.«
    Jack drehte sich um und tat so, als würde er sich einen Ständer mit illegalen Videokopien ansehen. Nichts von dem, was Ernie verkaufte, war auch nur annähernd echt.
    Seine Gedanken kehrten zu Gia zurück. Er hatte die vergangene Nacht bei ihr geschlafen. Es war wie immer sehr schön gewesen. Er liebte es, neben ihr aufzuwachen. Aber sie war ihm an diesem Morgen so nervös vorgekommen. Sie hatte mit kaum verhohlener Ungeduld verfolgt, wie er seine Telefongespräche geführt hatte, und er hatte den Eindruck, sie hatte es kaum erwarten können, dass er endlich das Haus verließ. Er betrachtete sich selbst nicht gerade als den umgänglichsten Menschen unter der Sonne, aber konnte es sein, dass er anfing, ihr auf die Nerven zu gehen?
    Der alte Mann hatte Ernie bis auf fünfunddreißig Dollar heruntergehandelt und zog mit seiner neuen coolen Brille auf der Nase zufrieden von dannen.
    »Hey, Jack«, sagte Ernie, faltete die Geldscheine sorgfältig zusammen und verstaute sie in der Hosentasche. Zu viele Jahre mit unzähligen filterlosen Zigaretten hatten ihm

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