HMJ06 - Das Ritual
nicht besonders gut darin, Dinge zu verbergen oder Geheimnisse für sich zu behalten. Das war nicht ihre Art. Das Beste war immer, alles offen auf den Tisch zu legen, damit sie sich beide damit befassen konnten.
Aber sie hatte keine passende Gelegenheit gefunden. Zumindest redete sie sich das während ihrer Fahrt von Midtown nach Astoria ein. Tatsache war, dass sie sich ganz einfach nicht hatte eingestehen können, dass sie so sorglos gewesen war.
Sie würde es ihm während der Heimfahrt erzählen. Ganz bestimmt.
Der zweite Grund war, dass sie Ifasen – Lyle – zu seiner Voraussage, sie würde zwei Kinder haben, einige Fragen stellen wollte. Der rationale Teil ihres Verstandes wusste genau, dass das Ganze ein Trick oder eine zufälligerweise zutreffende Vermutung gewesen war. Doch ein anderer Teil ihres Verstandes hörte nicht auf zu fragen. Hatte er es gewusst? Und wenn ja, gab es vielleicht noch mehr, was er ihr prophezeien könnte? Sie wusste genau, dass diese Fragen sie so lange nicht in Ruhe lassen würden, bis sie wenigstens auf einige Antworten erhielt.
Ja, sie wusste, dass es ganz und gar nicht vernünftig war und dass es absolut nicht zu ihr passte, aber …
Hey, ich bin schwanger. Bei mir spielen im Augenblick die Hormone verrückt. Ich brauche nicht vernünftig zu sein.
Jack legte einen Arm um ihre Taille, als sie über den unebenen Bürgersteig auf den Vorgarten von Lyles Haus zugingen.
Lyle … darin schwang nichts Spiritistisches mit, da war nichts von den übersinnlichen Schwingungen zu spüren wie in dem Namen Ifasen.
»Sie sind zurückgekommen?«
Gia zuckte beim Klang einer melodischen Frauenstimme hinter ihnen zusammen. Sie und Jack drehten sich gleichzeitig um.
»Verzeihung – wie bitte?«, sagte Gia.
Eine Inderin in einem roten Sari. Sie kam Gia irgendwie bekannt vor, und dann erinnerte sie sich, dass sie die Frau am Freitagabend gesehen hatte. Und zwar an diesem Ort. Bei dieser Gelegenheit hatte sie einen blauen Sari getragen, aber sie hatte denselben Deutschen Schäferhund an einer Leine bei sich gehabt.
»Sie dürfen nicht dort hineingehen«, sagte die Frau. »Sehr schlecht für Sie.«
»Davor haben Sie uns schon vorgestern gewarnt«, sagte Jack, »aber nichts ist geschehen. Also weshalb sind Sie schon wieder hier und …?«
»Es ist etwas geschehen!« Ihre dunklen Augen blitzten. »Die Erde hat gebebt!«
»Was wollen Sie uns denn nun weismachen?«, fragte Jack. »Dass wieder ein Erdbeben stattfinden wird, wenn wir dieses Haus betreten?«
»Ich sage Ihnen, dies ist ein schlechter Ort. Er ist für Sie beide gefährlich!«
Die Frau schien es völlig ernst zu meinen, und das erfüllte Gia mit aufkeimender Besorgnis. Und als der Hund sie mit seinen großen braunen Augen ansah und wimmerte, steigerte das ihre Unruhe noch erheblich.
»Danke für die Warnung«, sagte Jack. Er ergriff Gias Arm und zog sie weiter in Richtung Haus. »Lass uns weitergehen.«
Gia gehorchte, doch während sie ihren Weg fortsetzten, blickte sie über die Schulter und sah, wie die Frau und ihr Hund ihnen voller Sorge nachschauten.
Sie schmiegte sich an Jack. »Wovon hat sie geredet?«
»Vielleicht meinte sie die Geschichte des Hauses, oder sie nahm an, wir wären unterwegs, um an einer Seance teilzunehmen, und dass deswegen unser Seelenheil in Gefahr sei. Wer weiß das schon?«
Gia wandte sich noch einmal um, aber nun waren die Frau und ihr Hund verschwunden. Wahrscheinlich weitergegangen, dachte sie.
Während sie sich dem Haus des Hellsehers näherten, versuchte Gia, ihr Unbehagen abzuschütteln. Um auf andere Gedanken zu kommen, deutete sie auf die braunen, verdorrten Blätter der Gartensträucher vor dem Haus.
»Wen hat er als Gärtner engagiert? Etwa Julio?«
Jack lachte. »Nein. Das gehört ebenfalls zu den Belästigungen, mit denen er sich herumschlagen muss. Wenn alles so läuft wie gewünscht, ist damit schon in Kürze Schluss, und zwar endgültig.«
»Aber ohne Gewalt, oder?«
»Reines Theater. Ich tue so als ob und spiele der Gegenseite etwas vor, mehr nicht.«
Gut, hätte sie in diesem Augenblick erwidern können. Ich möchte nämlich nicht, dass dein Kind ohne Vater aufwächst.
Aber sie wollte ihm die Neuigkeit nicht unbedingt jetzt auftischen, während sie im Begriff waren, Lyle Kenton einen Besuch abzustatten.
Der Mann, der sich ihnen als Ifasen vorgestellt hatte, öffnete nach Jacks Klopfen die Tür. Er trug ein Sweatshirt mit Spartans-Aufdruck und abgeschnittenen Ärmeln, dazu
Weitere Kostenlose Bücher