Hochsaison. Alpenkrimi
Heimweg. Die Zither trug er in einem Kasten unter dem Arm, er musste ein paar hundert Meter durch den rabenschwarzen Tann stapfen, er ging quer durch den Wald, er kannte den Weg. Den letzten halben Kilometer ging es steil bergauf, bis man zur Villa kam – ein Flachländer hätte dort oben nicht wohnen mögen. Am Anfang des Steilhangs blieb der Zither Beppi stehen. Denn es hatte geknackt. Es hatte deutlich geknackt. Der Zither Beppi war Musiker, er hatte ein feines Gehör, er wusste, wie sich das Knacken von Rehen und Wildsauen anhört, wie das Geraschel von Raubvögeln klingt, die um diese Zeit noch Beute machten. Doch das war kein Knacken von Tieren gewesen, das war ein menschliches Knacken. Es war das Knacken eines verstohlenen Waldschleichers, dem versehentlich ein Raschler ausgekommen war.
»Hallo!«, rief der Beppi in die sündenschwarze Nacht hinein. »Hallo! Ist da jemand?«
Er hatte keine Angst. Wer sollte ihm etwas tun? Es knackte nochmals, diesmal an einer anderen Stelle, schräg hinter ihm. Er drehte sich um.
»Hallo!«, rief er in diese Richtung. »Angerer, bist du das? Mach keinen Schmarrn.«
Und schon kam das Knacken wieder von vorn. Wäre er doch bloß nicht so gutmütig gewesen und hätte alles ausgeplaudert,
Hätte er doch bloß sein Maul gehalten. Bei den Ermittlungen helfen! Nun gut, von dem einen oder anderen Großkopferten, der damals in der VIP -Lounge war, hatte er dem Kommissar ohnehin nichts erzählt. Aber der Kardinal und der Baumagnat, der Carducci und der Gonzalez, die konnten ziemlich unangenehm werden, wenn sie etwas erfuhren. Es war auch ziemlich unklug gewesen, hier im Wald einen Schrei abzulassen. Wenn dort in der Dunkelheit wirklich Leute waren, die ihm an den Kragen wollten, dann hatte er ihnen mit den beiden Schreien seine genaue Position durchgegeben: Grundausbildung Bundeswehr, zweite Woche. Hätte er sich zwischen seinen beiden Hallo-Rufen doch bloß ein paar Meter bewegt! Das Sonderbare bei der ganzen Situation war: So richtige Angst hatte er immer noch nicht. Vorsichtig und unendlich langsam stellte er seinen Zitherkasten auf den Boden. Er schnallte seinen Rucksack ab und zog seine weite Lederjoppe aus. Er legte alles auf den Boden, dann ging er los. Er schaffte zehn Schritte, ohne dass man ein Geräusch gehört hätte. Hochkonzentriert und Fuß vor Fuß setzend schlich er auf diese Weise bergaufwärts, in Richtung seines Hauses, dessen Umrisse in der Ferne schon undeutlich zu sehen waren.
»Hallo!«, rief er nochmals, diesmal wesentlich leiser. Er wartete. Zwei Minuten. Vier Minuten. Ein Musiker hat ein gutes Gespür für Zeit. Sollte er sich hinsetzen? Oder sollte er gar die Nacht hier draußen verbringen? Oder sollte er einfach weitergehen und die Zither als Fersengeld hinterlassen?
Ohne dass er vorher Schritte gehört hätte, spürte er unvermittelt eine eiskalte Stahlsaite um seinen Hals, die sich schnell zuzog. Er wusste sofort, dass es sich um eine tiefe A-Saite seiner Zither handelte, denn sie bestand aus dickem, weichem Kupferdraht, der mit einem anderen, wesentlich dünneren und härteren Kupfer-Nickel-Draht umwickelt war. Unwillkürlich griff
er mit beiden Händen nach der Saite, doch es war zu spät, der Draht hatte sich schon so in seinen Hals gegraben, dass er mit den Fingern nicht mehr dazwischen kam. Sprachloses Entsetzen stieg in ihm auf. Er wollte schreien, doch er brachte keinen Laut heraus. Nur klägliches Geröchel kam noch aus seinem Mund. Er versuchte über die Schultern nach hinten zu greifen, sich zu drehen und dorthin zu treten, wo er den Angreifer vermutete, doch durch diese ungezielten Bewegungen zog sich die Schlinge nur noch schmerzhafter zu.
Seine Beerdigung fand schon am übernächsten Tag statt.
56
(Ein Mikrophon pfeift.)
»Sprechprobe, Sprechprobe. Einundzwanzig, zweiundzwanzig.«
»Fällt Ihnen nichts anderes ein?«
»Was soll ich denn sagen?«
»Irgendetwas, aber nicht dauernd
Sprechprobe
und
einundzwanzig, zweiundzwanzig
.«
»
Keine
Sprechprobe.
Drei
undzwanzig,
vier
undzwanzig.«
»Ich brauche einen ganz normalen Text, damit ich die Empfindlichkeit richtig einstellen kann. Verdammt nochmal, Sie alle sind doch jetzt schon oft genug verkabelt worden!«
»Becker, werden Sie nicht unverschämt.«
»Vielleicht kennen Sie ein paar Dienstvorschriften auswendig?«
»Polizeiaufgabengesetz, Artikel einundzwanzig zweiundzwanzig.«
»Weiter, weiter!«
»Weiter weiß ich nicht. Ich müsste nachschlagen.«
»Dann lesen
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