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Hochsaison. Alpenkrimi

Titel: Hochsaison. Alpenkrimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Maurer
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eine Zeugenaussage zu machen?«
    »Nein, habe ich nicht, ich meine halt bloß. Weil ich Sie hier grade treffe.«
    »Ich bin auf dem Weg zum Zug. Ich habe einen wichtigen Termin.« Und zwar den wichtigsten Termin seit langem, dachte Jennerwein. Einen ganz privaten Termin. Eine Unterredung, um die er sich schon lange gedrückt hatte. Eine Aussprache, zu der er sich jetzt endlich durchgerungen hatte.
     
    Im Grunde genommen haben alle Polizeiermittler einen Defekt, eine dunkle Stelle, einen Schatten, einen Schmiss, eine hinter vorgehaltener Hand geflüsterte Unregelmäßigkeit. Vielleicht kann man sie auch nur dadurch auseinanderhalten. Ausgestorben ist der Kommissar ohne Fehl und Tadel, und die Schrammen, Macken, Außergewöhnlichkeiten und Fehlfarben, die Deformationen und Renoncen sind vielfältiger Art. Manche Kommissare haben Übergewicht, Höhenangst oder Beziehungsprobleme. Ermittler sind auch gerne alkoholkrank, einäugig, dezent drogensüchtig, leben in abschüssigen Ehen, kleben trotz heroischer Arbeit seit Jahren in derselben Gehaltsklasse fest oder sind einfach nur weit über fünfzig. Manche leiden an ihrem falschen Geschlecht, Parteibuch oder Sternzeichen, andere können kein Blut sehen, keine spätgotischen Bauwerke oder keine spitzen
Messer. Einige schaffen es nicht, das Rauchen aufzugeben oder haben einfach nur Pech mit ihrem Team, mit ihrem Chef oder mit ihrem eigenen Temperament. Irgendetwas ist immer, und auch bei Kommissar Jennerwein war etwas. Dieses Etwas hieß Akinetopsie, und er hatte ziemlich daran zu knabbern.
     
    Er litt an einer schweren Wahrnehmungsstörung, die bei ihm nur deshalb nicht zum sofortigen Vorruhestand mit ewigen Spaziergängen rund um alpenländische Seen geführt hatte, weil niemand außer ihm davon wusste. Sie war bisher selten aufgetreten, und vor allem glaubte er, sie ganz allein und ohne fremde Hilfe in den Griff zu bekommen. Er hatte insgesamt nur fünf solcher Anfälle gehabt, dann aber waren sie heftig und verstörend gewesen. Ein Wort zum Polizeiarzt, und er hätte den Dienst, seinen heißgeliebten Polizeiberuf, auf der Stelle quittieren müssen. Ein Gespräch mit einem Psychiater, und er hätte vielleicht sogar befürchten müssen, nachhaltig aus dem zivilisatorischen Verkehr gezogen zu werden. Er hatte eine ausgesprochen seltene Behinderung, eine Störung des Bewegungssehens, bei der die Umgebung nicht in Form eines Films, sondern in Form eines Comic Strips erscheint. Bei einem Akinetopsie-Anfall springt die Welt von Bild zu Bild, und die Momentaufnahme bleibt längere Zeit stehen, während die Geräusche rundherum ungerührt weiterlaufen. Jennerwein fuhr deshalb nicht Auto, er unternahm keine größeren Reisen, er vermied ausgesetzte Bergtouren – aber er hielt hartnäckig am Polizeidienst fest. Während eines Einsatzes hatte ihm seine Akinetopsie sogar einmal das Leben gerettet. Und genau dieser Vorfall war zu seiner allergrößten Ausrede geworden, nicht zu einem Arzt zu gehen.
    Aber jetzt hatte er sich durchgerungen. Er hatte mit sich und seinen Bedenken gekämpft während dieses Wochenendes, auf einsamen Spaziergängen im Loisachtal hatte er sich etwas
vorgenommen. Er wollte sich jetzt endlich mit Maria treffen, der Polizeipsychologin Dr. Maria Schmalfuß, einem Mitglied seines kleinen Teams, zu der er inzwischen Vertrauen gefasst hatte. Er hatte sich auch schon die Anfangssätze zurechtgelegt, die dringende Bitte um Diskretion, die Besprechung des Falles in der dritten Person. Er war auf dem Weg zum Zug, der Punkt 10.04 Uhr nach München fuhr. Jetzt war es 09.55 Uhr.
     
    Toni Harrigl, der so fest in der Gemeinde verwurzelt war, hatte sich nochmals vor ihm aufgebaut.
    »– Mitglied des Volkstrachtenerhaltungsvereins, stellvertretender Löschzugführer der freiwilligen Feuerwehr, zweiter Vorstand des SC Riessersee, Mitglied im
Komitee pro 2018
–«
    »Haben Sie eigentlich Familie?«, fragte Jennerwein.
    »Aber natürlich«, sagte Harrigl, »meine Frau ist Präsidentin des Tennisclubs, zweite Vorsitzende des Bogenschützenvereins, ständige Aktivistin der Initiative
Ja zur Alpenolympiade
, Mitglied des –«
    »Ja, schon gut, ersparen Sie mir das«, unterbrach ihn Jennerwein zerstreut. Denn das Wort
Bogenschützenverein
hatte sich in irgendeiner der zehn Milliarden Synapsen, die einem Ermittlerhirn gemeinhin innewohnen, festgehakt und arbeitete dort still weiter. »Jetzt sagen Sie mir, was Sie wollen, Herr Harrigl, ich muss wie gesagt zum Zug. Und der fährt

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