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Hochsaison. Alpenkrimi

Titel: Hochsaison. Alpenkrimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jörg Maurer
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war, flächendeckend an Handschriften zu kommen, war der einstündige Lauschangriff ja völlig für die Katz gewesen, dachte sie. Sie steckte den Zettel von dem lästigen Typen in die Gesäßtasche ihrer Jeans, und beschloss, da sie schon einmal touristisch geoutfittet war, einen Spaziergang zur Sprungschanze zu machen und dabei an ihrem Täterprofil weiterzuspinnen: männlich, weiß, intelligent, Single, hyperaktiv, ARTE -Zuschauer, Franz-Kafka-Leser, hochfrustriert – etwas von dieser Art.

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    Wo du auch schnupperst, es stinkt, der Geruch des Niedergangs, dein eigener Hauch der Verwesung, das ist alles nicht mehr zu ertragen. Du beginnst abzubauen, dein Körper zerfällt, deine Kräfte schwinden, deine Intelligenz hat ihren Höhepunkt erreicht. Alles schwächelt, alles lässt nach, es geht nur noch abwärts. Du läufst nicht mehr so schnell wie früher, du kannst dir nichts mehr merken, nicht einmal eine einfache Telefonnummer, die ersten Freunde sind schon weggestorben, du bekommst Falten, matte Haare und einen laschen Gesichtsausdruck. Du spürst es am eigenen Leib, wie jeden Tag Millionen Körperzellen kaputtgehen, du hast das lebenswerte Leben hinter dir: du bist zwanzig.
     
    Bobo war so einer, der gerade diesen heiklen Geburtstag gefeiert hatte. Na ja: was heißt gefeiert, er hatte den Tag alleine verbracht, denn das Leben war schon am Morgen schlagartig unerträglich geworden, einfach so, von einem Augenblick auf den anderen – was gab es da groß zu feiern. Da er im Gymnasium zweimal durchgefallen war, klebte er immer noch in der Zwölften fest, und er hasste sie von ganzem Herzen, die siebzehn- und achtzehnjährigen Kameraden, bei denen es noch aufwärts ging, biologisch, mnemotechnisch, entwicklungsgeschichtlich, hormonell, insgesamt eben.
     
    Viele im Ort bezeichneten das hiesige Gymnasium als das verrückteste des ganzen Voralpenlandes. Manche behaupteten, der
Föhn wäre schuld. Der Föhn bliese den Schülern das Gepaukte aus dem Hirn, ehe die Schulstunde vorüber wäre. Manche Lehrer, die sich hierher versetzen hatten lassen, trugen dem Rechnung und versuchten erst gar nicht, etwas Faktenähnliches in die schwammartigen Gehirne der alpenländischen Hoffnungsträger zu trichtern. Als Nicole Schwattke und Franz Hölleisen die Eingangshalle des Gymnasiums betraten, rochen sie als Erstes das, was man in allen Schulen auf der ganzen Welt als Erstes riecht, eine Melange aus vergessenen Butterbroten, Kreidestaub und getrocknetem Angstschweiß. Der Schulgong, das Zarathustra-Motiv von Richard Strauss, knüppelte die quietschenden Halbwüchsigen aus den Klassen, trieb sie zur Eile an, immer mehr purzelte da heraus an zukünftiger Intelligenz und potentiellem Führungspersonal. Die beiden Polizisten hatten bald das Gefühl, hüfttief in Schülern der Unterstufe zu waten. Besonders bei Hölleisen, dessen letzter Schulbesuch schon geraume Zeit zurücklag, eigentlich Jahrhunderte, ließ der Geruch der Eingangshalle Erinnerungen aufsteigen, die sofort auf die bangen Fragen zuliefen: Habe ich Erdkunde gelernt? Nein. Habe ich verstanden, was ein linear unabhängiger Vektor ist? Nein. Werde ich das alles je verstehen? Nein, ganz bestimmt nie.
    In einigen der Klassenzimmer, in denen hoffnungsvolle Lehrer tapfer gegen den kulturellen Verfall des Abendlandes ankämpften, war noch etwas Leben. Ein Elfjähriger keuchte an ihnen vorbei. Er trug einen Schulranzen, so groß wie ein Tornister eines Soldaten aus dem Dreißigjährigen Krieg und so schwer wie er selbst.
    »Hey, du Mobbingopfer hast mich getreten«, sagte ein Unterstüfler zum anderen, und in einer offenen Tür stand Oberstudienrätin Ronge, zur Zeit die einzige OStRin der Welt, die keinen Doppelnamen trug.
    »Restjugoslawe!«, gab das Mobbingopfer zurück.
    Als Nicole zusammen mit Hölleisen ins Klassenzimmer trat,
stiegen auch bei ihr die üblichen fatalen Gefühle hoch, die in nicht minder fatale Fragen mündeten: Weiß ich etwas über den Ablativ? Nein. Habe ich verstanden, um was es beim DopplerEffekt geht? Nein, und ich werde es wohl auch nie verstehen.
     
    »Da wären sie also, unsere Seminarler mit Leitfach Sozialkunde«, sagte die OStRin Ronge, und sie sagte es so stolz, als wäre Sozialkunde etwas, was junge Menschen draußen im Leben am allerdringendsten bräuchten. Sechs junge Menschen, zwei Mädchen, vier Jungs, standen höflich auf und schüttelten Schwattke und Hölleisen brav die Hand. Nur Bobo blieb sitzen, ein unendlich langsamer

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