Hochsommermord: Kriminalroman (German Edition)
hatte, führte die Strecke in einem ständigen Auf und Ab in Richtung der griechischen Hauptstadt. Kepplinger hatte sich den Verlauf genau eingeprägt und wusste, dass sich das bis Kilometer zweiunddreißig hinziehen würde. Erst dann war der sogenannte Kulminationspunkt des schwierigen Rennens erreicht, der zweihundertvierzig Meter über dem Meeresspiegel lag. Von da an ging es kontinuierlich bergab in Richtung Ziel. Ein leichter Wind kam auf und sorgte für eine angenehme Kühle auf der Haut.
Kepplinger mühte sich einen Hügel hinauf. Der Schweiß rann ihm über das Gesicht und brannte in den Augen. Am Straßenrand kündigten Schilder eine Verpflegungsstation an. Mittlerweile war es ihm beinahe zu heiß. Nach einer Stunde und vierzig Minuten passierte er die Halbmarathonmarke. Um die Wette zu gewinnen, lag er gut im Zeitplan. Die vereinbarten vier Stunden hatten ohnehin nur Symbolcharakter. Aber er wollte die Vorgabe trotzdem unterbieten und wusste, dass ein Marathonlauf erst ab Kilometer dreißig richtig begann. Dann, wenn die Kohlenhydratspeicher erschöpft waren und der Organismus auf eine reine Fettverbrennung umstellen musste. Diesen Punkt galt es, so weit wie möglich hinauszuschieben. An der Verpflegungsstelle griff er nach einem Becher Wasser und einer Banane. Die Helfer ermunterten ihn in ihrer Sprache, von der er kein Wort verstand. Trotzdem begriff er die Geste und bedankte sich auf Englisch. Einige Hundert Meter später wurden feuchte Schwämme gereicht. Dankbar nahm er einen entgegen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Anschließend drückte er das kühle Wasser über seinem Kopf aus. Als er mit dem erfrischenden Schwamm über seine Arme strich, spürte er die Narbe an seinem Oberarm. Er warf den Schaumstoff in einen Behälter am Straßenrand und dachte an die Schüsse im Schlafzimmer von Lars Kaufmann. Wie oft hatte er in den vergangenen Monaten davon geträumt und war schweißgebadet aus dem Schlaf hochgeschreckt. Er hoffte darauf, dass die Bilder irgendwann einmal verblassen würden. Die Festnahme war ein Glücksfall gewesen. Die Kollegen des Landeskriminalamtes hatten einen regelrechten Kinderporno-Ring mit über fünfhundert Beteiligten zerschlagen können. Darunter auch Manager, Bürgermeister, eine Ärztin (eine Tatsache, die ihn lange beschäftigte) und zwei Landtagsabgeordnete. Kaufmann hatte sich einen Tag vor der Hauptverhandlung in seiner Zelle erhängt. Wenn er an die Festnahme dachte, beschäftigten ihn nur noch die Schüsse, die Kaufmann auf ihn abgefeuert hatte. Hin und wieder stellte er sich vor, wie es gewesen wäre, wenn er ihn tödlich getroffen hätte. Immer wieder spulte er wie einen Film vor seinem geistigen Auge ab, wie die Kollegen in das Schlafzimmer gerannt kamen und seinen Leichnam fanden. Manchmal dachte er, dass er noch ein paar letzte Worte gestammelt hätte. Was hätte er im Bewusstsein, sterben zu müssen, noch gesagt?
Er wehrte sich gegen diese Momente, in denen seine Fantasie derart entgleiste, und dennoch kamen sie immer wieder in ihm hoch.
Es gelang ihm, die Gedanken während des Laufs zu verdrängen. Heute war nicht der Tag, um über das Sterben zu grübeln. Am Straßenrand tauchte eine Gruppe von Kindern auf, die Fähnchen schwenkten und jeden Teilnehmer begeistert anfeuerten. Er winkte ihnen zu und erntete prompt einen Sonderbeifall. Im Chor riefen die Kinder seinen Vornamen, der unterhalb der Startnummer aufgedruckt war. »Moritz – Moritz.« Plötzlich musste er an Manuela Jessen denken. Ihren sinnlosen Tod mit zehn Jahren, einem Alter, in dem ihr Leben gerade erst begonnen hatte.
Erich Sander hatte in den Vernehmungen und selbst vor Gericht keine Reue gezeigt. Er hatte sich so in seinen Hass verrannt, dass er vollkommen davon überzeugt war, richtig gehandelt zu haben. Ein Gutachter attestierte ihm trotz seiner Erkrankung die volle Schuldfähigkeit, sodass dem Gericht nichts anderes übrigblieb, als die Höchststrafe zu verhängen. Erich Sander würde voraussichtlich bis an sein Lebensende in einer geschlossenen Anstalt eingesperrt bleiben.
Kepplinger war davon überzeugt, dass auch Sander irgendwann in seinem Leben an einen Punkt gekommen war, an dem er die Möglichkeit gehabt hatte, sich zu entscheiden. So wie jeder andere auch, dem das Schicksal übel mitspielte. So musste es auch Susanne Jessen ergehen, der es sicher schwerfiel, wieder in ein normales Leben zurückzufinden.
Endlich hatte er den Kulminationspunkt bei Kilometer
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