Hochsommermord: Kriminalroman (German Edition)
Salvatore den Sohn der Alten befragt hatte.
»Sie ist fünfundneunzig, versorgt sich selbst und weigert sich beharrlich, den Erbhof aufzugeben.«
Der Bauer des Gehöftes, den Moritz befragt hatte, kannte Manuela Jessen, da sie hin und wieder mit ihrer Mutter frische Milch bei ihm gekauft hatte. Zuletzt vor einer Woche. Seitdem hatte er das Kind nicht mehr gesehen.
»Hier kommen wir nicht weiter«, sagte Kepplinger. Er schlug vor, zurück zur Dienststelle zu fahren und den Rest des Nachmittags dafür zu verwenden, brauchbaren Hinweisen aus der Bevölkerung nachzugehen.
»In der Hoffnung, dass welche eingegangen sind.«
Er meldete sich über Funk bei Brandstätter ab, der ihm mitteilte, die Suchaktion in Kürze abzubrechen.
Auf der Rückfahrt dachte er über den vergangenen Tag nach. Er kam ihm nutzlos vor. Sie hatten eine Menge Zeit verschwendet und waren keinen Schritt weitergekommen. In seiner Polizeiarbeit hatte er bislang nie erlebt, dass es keine einzige brauchbare Spur in einem Fall gab. Seit dem Zeitpunkt, an dem Manuela Jessen zum letzten Mal gesehen worden war, waren einhundert Stunden vergangen, rechnete er besorgt aus. Ohne ein einziges Lebenszeichen.
Ihm fiel ein, was Lea am Morgen gesagt hatte: Du musst immer daran denken, dass sie am Leben ist. Sonst wirst du verrückt. Im Moment ist alles verrückt, dachte er. Für den Abend nahm er sich vor, laufen zu gehen.
Es war fünfzehn Uhr dreißig, am Dienstag, dem 23. Juli 2013. Einem der heißesten Tage des Jahres.
Die Scheune war sein Refugium. Niemand wusste etwas von der Vereinbarung, die er mit dem alten Landwirt getroffen hatte. Es gab auch keine Papiere. Sie hatten sich per Handschlag geeinigt. Hundert Euro im Jahr. Mir ist es egal, was sie da drin machen, hatte der Alte gesagt. Nur keine Schweinereien.
Daran musste er jedes Mal denken, wenn er über den schmalen Weg über eine ehemalige Pferdekoppel zur Scheune fuhr. Das ganze Anwesen sah ungepflegt aus, die Wiesen waren nicht gemäht und die Bäume hoffnungslos verwildert. Gewaltige Mistelbüsche bewucherten die Eschen, Birken, Äpfel- und Ahornbäume. Aus dem Hof könnte man etwas machen, dachte er immer wieder. Aber dafür fehlten ihm die Zeit und das nötige Kleingeld. Plötzlich erregte etwas anderes seine Aufmerksamkeit. Von Weitem sah er, dass das Schiebetor einen Spaltbreit offen stand. Er stellte den Motor ab und sah sich um. Es war so ruhig wie immer. Von dem Alten war weit und breit nichts zu sehen. Er näherte sich der Scheune und warf einen Blick hinein. Nichts. Im Inneren war alles so, wie er es zwei Tage zuvor verlassen hatte. Er schob das Tor ganz auf und machte sich auf den Weg zurück zu seinem Wagen. Am Ende habe ich das Tor selbst offen gelassen, mutmaßte er. Er nahm sich vor, mit dem Bauern zu sprechen, sobald er ihn zu Gesicht bekäme. Dann lenkte er den Wagen in die Scheune und blätterte in der Anleitung für die Schonbezüge. Er hatte beschlossen, alle Sitze damit auszustatten, und begann mit dem Fahrersitz. Umständlich hantierte er mit den Gummibändern, mit denen die Bezüge unterhalb der Sitze befestigt werden. Anschließend machte er sich im Fond des Wagens zu schaffen. Er tastete nach dem Urinfleck auf der Rückbank, der in der Zwischenzeit vollständig getrocknet war. Mit bloßem Auge war er kaum noch zu erkennen. Nur die Ränder hatten sich weißgrau verfärbt, wie ein salziger Schweißfleck im Achselbereich eines Hemdes. Als er sich bückte, entdeckte er unter der Sitzbank einen rosafarbenen Ballerinaschuh. Das Mädchen musste ihn verloren haben. Die Vorstellung, dass seine Lebensgefähr tin den Schuh hätte finden können, ließ ihn erschaudern. Er betrachtete das eingearbeitete Blumenmuster auf der Schuhspitze und überlegte, was er damit tun sollte. Zuerst wollte er den Schuh in einen Mülleimer werfen, beschloss dann aber, ihn zu behalten. Er packte ihn in die Umschlagseite der Tageszeitung und steckte das Päckchen unter das Reserverad im Kofferraum. Dann holte er einen Aktenkoffer hervor, setzte sich auf einen Holzstapel neben der Scheune und überdachte seine Pläne von Neuem. Er nahm ein altes Foto aus dem Koffer, das er lange betrachtete. Auf ihm war der Mann abgebildet, der als Nächstes sterben musste. Er fragte sich, wie alt das Bild wohl war. Vielleicht zwanzig Jahre, schätzte er. In jedem Fall wird er sich verändert haben. Trotzdem war er sicher, dass es ihm leichtfallen würde, ihn wiederzuerkennen und zu töten. Wegen ihm werde ich keine
Weitere Kostenlose Bücher