Hochsommermord: Kriminalroman (German Edition)
hatte. Nach einer halben Stunde lagen alle Ausdrucke auf vier Stapeln sortiert vor ihnen.
Sie verschafften sich zuerst einen Überblick über die Personen mit einer Vorstrafe. Es waren nicht viele.
Zwei Fälle von Autodiebstahl, Steuerhinterziehung, ein Trickbetrüger und drei Männer, die wegen Körperverletzung verurteilt waren.
»Damit können wir nichts anfangen. Wir müssen auf andere Dinge achten.«
»Zum Beispiel?«
»Ich weiß es nicht. Auf die Uhrzeit, die Dauer der Gespräche – keine Ahnung!«
Anja Kober betrat den Raum und brachte einen weiteren Papierstapel.
Ohne ein Wort zu verlieren verschwand sie wieder im Treppenhaus.
Er holte die neuen Listen und drückte ihr die Hälfte in die Hand.
»Danke, Herr Kommissar«, scherzte sie. »Soll ich uns einen Kaffee holen?«
»Gerne, ich mache so lange weiter.«
»Dass du dich nur nicht überarbeitest.«
Alexander Giebel saß im Büro und schrieb seinen Tagesbericht zu Ende. Seine größte Sorge galt immer noch Susanne Jessen. Am Mittag hatte er herausgefunden, dass sie nicht das erste Mal in psychiatrischer Behandlung war. Vor sechs Jahren hatte sie ein Kind im achten Schwangerschaftsmonat verloren. Den Berichten zufolge hatte es bereits damals in der Ehe gekriselt. Die damals vierjährige Manuela war ihr einziger Halt gewesen. Dasselbe Kind, das die Polizei seit Tagen verzwei felt suchte. Nach der Scheidung erfolgte der zweite stationäre Aufenthalt. Seitdem war Susanne Jessen regelmäßig bei einem Kollegen in ambulanter Therapie. Das Schicksal der Frau berührte ihn. In der Regel gelang es ihm, seinen Patienten mit einer gewissen Distanz und Sachlichkeit zu begegnen. Das war auch gut so. Doch bei ihr versagte dieser Mechanismus. Noch konnte er sich keinen Reim darauf machen, weshalb. Er dachte an das Foto, das sie ihm bei der letzten Visite gezeigt hatte. Das unschuldige Lächeln des Mädchens in die Kamera, das stolz einen kleinen Hasen im Arm hält. Der Kommissar hatte versprochen, sich zu melden, sobald die Polizei einen konkreten Hinweis hätte. Mit jeder Stunde, die ohne Neuigkeiten verging, wuchs seine Sorge.
Er blickte aus dem Bürofenster in den Park der Klinik. Eine Pflegerin unterhielt sich angeregt mit einem älteren Herrn, der im Rollstuhl saß. Dann holte Alexander Giebel die Vergangenheit ein.
Ihr könnt mich nicht verstehen.
Auf einmal waren die Worte des Abschiedsbriefes wieder präsent.
Ihr könnt mir nicht helfen.
Er erinnerte sich an den Anblick der geöffneten Pulsadern. Die Blutlache unter dem Bett. Den gequälten Gesichtsausdruck seiner Patientin. Ihre weit aufgerissenen Pupillen, die, obwohl sie längst tot war, den Schmerz ihrer Depressionen in den Himmel schrien. Die Bilder vor seinem inneren Auge hatten nichts an Grausamkeit eingebüßt. Und das Gefühl, einen Fehler begangen zu haben, löste dieselbe Ohnmacht aus wie vor einem Jahr. Die Situation war in vielerlei Hinsicht die gleiche. Dieses Mal würde er alles tun, was in seinen Möglichkeiten stand.
Nachdem sie Kaffee getrunken hatten, machten sich Moritz und Lea wieder an die Arbeit. Sorgfältig prüften sie die Daten der ermittelten Anschlussinhaber, die sich im möglichen Tatzeitraum im Bereich der Funkzelle unterhalb der Burg Staufeneck aufgehalten, dort telefoniert oder eine Kurznachricht versandt hatten.
Kepplinger fand heraus, dass man um die Mittagszeit ungefähr sieben Minuten benötigte, um den gesamten Bereich der Funkzelle auf der Ost-West-Achse zu durchqueren. Diese Personen schieden alle aus, da sie nicht die Zeit gehabt hätten, von der Bundesstraße zur Schule und wieder zurück zu fahren. Rund zwanzig Prozent der eingeloggten Geräte, die die Funkzelle wieder verlassen hatten, hielten sich circa fünf Minuten länger darin auf. Hierbei musste es sich um diejenigen handeln, die mit dem Fahrzeug in südlicher oder nördlicher Richtung durch den Sendebereich gefahren waren.
Gemeinsam erweiterten sie ihre Stapel um diese beiden Kategorien. Immer wieder brachten Franziska oder Anja Kober neue Datensätze in den Besprechungsraum. Nachdem sie weitere dreihundert Blätter sortiert und überprüft hatten, schlug Kepplinger eine zweite Pause vor.
»Ich muss was essen«, stöhnte er, während er sich über die Stuhllehne streckte.
Sie beschlossen, sich in der Stadt einen Imbiss zu suchen.
Vor einem Schmuckgeschäft projizierten zwei Laser mit einer Laufschrift, Uhrzeit und Außentemperatur auf den Gehsteig.
»Immer noch fünfundzwanzig Grad«, sagte
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