Hochzeit des Lichts (German Edition)
Ist sie noch für einige wenige Menschen sinnvoll? Im selben Jahr, da der Krieg entbrannte, sollte ich aufbrechen, um den Irrfahrten des Odysseus wieder zu folgen. Zu jener Zeit konnte sogar ein unbemittelter junger Mann den kostspieligen Plan fassen, ein Meer auf der Suche nach dem Licht zu überqueren. Doch dann tat ich wie alle andern. Ich habe mich nicht eingeschifft. Ich habe mich in die Reihe eingefügt, die vor den offenen Höllentoren aufmarschierte. Nach und nach sind wir eingetreten. Und beim ersten Schrei der gemordeten Unschuld schlugen die Tore hinter uns zu. Wir waren in der Hölle und sind nie mehr herausgekommen. Seit sechs Jahren suchen wir uns damit abzufinden. Die lebenswarmen Bilder der glücklichen Inseln erscheinen uns nur noch hinter weiteren kommenden Jahren ohne Feuer und ohne Sonne.
Wie soll man in diesem feuchten und schwarzen Europa nicht mit einem zitternden Bedauern und mit schwer zu tragender Mitschuld die Worte des alten Chateaubriand vernehmen, die er dem nach Griechenland aufbrechenden Ampere zurief: »Sie werden kein Blatt der Olivenbäume, keine Traubenbeere wiederfinden, die ich in Attika sah. Ich traure selbst dem Gras meiner Zeit nach. Ich hatte keine Kraft, ein Heidekraut wieder zum Leben zu erwecken.« Und wir, unserm jungen Blut zum Trotz in das grässliche Alter des Jahrhunderts gesunken, wir trauern manchmal den Grashalmen aller Zeiten nach, den Olivenzweigen, die wir für uns nicht mehr sehen werden, und den Trauben der Freiheit. Der Mensch ist überall, überall sein Schrei, sein Schmerz und sein Drohen. Inmitten so vieler zusammengedrängter Kreaturen bleibt kein Ort für das Zirpen der Grillen. Die Geschichte ist unfruchtbarer Boden, wo kein Heidekraut wächst. Und doch: Der heutige Mensch hat seine Geschichte gewählt, und er konnte und sollte sich nicht von ihr abwenden. Aber statt sie sich untertan zu machen, lässt er sich Tag für Tag von ihr mehr in die Knechtschaft drängen. Hier verrät er Prometheus, diesen Sohn »mit den kühnen Gedanken und dem leichten Herzen«. Hier kehrt er zurück zum menschlichen Elend, daraus Prometheus ihn retten wollte. »Sie sahen, ohne zu sehen, sie hörten, ohne zu hören, den Gestalten des Traumes gleich …«
Ja, ein Abend in der Provence, die vollkommene Linie eines Hügels, der Geschmack von Salz genügt, um zu erkennen, dass alles neu zu schaffen ist. Wir haben das Feuer neu zu erfinden, die Werkstätten neu zu erbauen, um den Hunger des Körpers zu beschwichtigen. Attika, die Freiheit und ihre Ernten, das Brot der Seele, sind für später. Was bleibt uns mehr, als uns zuzurufen: »Sie werden nie mehr sein, oder dann für andere«, und nun alles daranzusetzen, dass wenigstens jene andern nicht beraubt sein werden. Wir, die wir dies mit Schmerzen fühlen und es dennoch mit einem Herzen ohne Bitterkeit anzunehmen versuchen, sind wir denn zu spät oder zu früh, und werden wir die Kraft haben, das Heidekraut zum Blühen zu bringen?
Auf diese Frage, die sich in unserm Jahrhundert erhebt, glaubt man die Antwort des Prometheus zu hören. Wahrlich, er hat es schon gesagt: »Ich verspreche euch die Erneuerung und die Versöhnung, o Sterbliche, wenn ihr genügend geschickt, genügend rechtschaffen und genügend stark seid, sie mit euren Händen zu vollbringen.« Wenn es wahr ist, dass das Heil in unsern Händen liegt, so werde ich die aufgeworfene Frage dieses Jahrhunderts bejahen, wegen dieser überlegten Kraft, dieses eingeweihten, wissenden Mutes, den ich immer wieder in einigen meiner Freunde erkenne. »O Gerechtigkeit, o meine Mutter«, ruft Prometheus, »du siehst, wie sie mir Leid zufügen.« Und Hermes spottet über den Helden: »Ich bin erstaunt, da du doch Seher bist, dass du diese Leiden nicht vorausgesehen hast.« – »Ich wusste es«, antwortet der Rebell. Die Männer, von denen ich spreche, sind ebenfalls Söhne der Gerechtigkeit. Auch sie leiden in ihrer Bewusstheit um alle. Sie wissen, dass es keine blinde Gerechtigkeit gibt, dass die Geschichte nicht vorhersehen kann und dass man folglich ihre Gerechtigkeit zurückweisen muss, um sie, soweit möglich, durch die Gerechtigkeit des Geistes zu ersetzen. In diesem Sinne kehrt Prometheus in unserm Jahrhundert wieder.
Die Mythen leben nicht aus sich selbst. Sie warten darauf, dass wir sie verkörpern. Ein einziger Mensch auf der Welt antwortet ihrem Ruf, und sie bringen uns ihre unberührten Lebenssäfte dar. Diesen einen müssen wir bewahren und müssen wachen, dass
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