Hochzeit im Herrenhaus
was die Beweggründe des Viscounts betrifft, war ich ziemlich begriffsstutzig. Da fällt mir ein – weder Sarah noch Louise zeigten sich erstaunt, als sie von meiner Verlobung erfuhren. Beide waren entzückt, aber kein bisschen verblüfft. Offenbar hat hier jeder damit gerechnet – nur ich nicht. Keine Sekunde lang dachte ich, er wäre nach Norden gefahren, um meine Tante und meinen Onkel kennenzulernen und die beiden zu der Party einzuladen. Darüber freue ich mich – obwohl es ein bisschen anmaßend von ihm war, einfach vorauszusetzen, ich würde seinen Heiratsantrag annehmen. Und dann war er auch noch so fürsorglich, eine Truhe mit meinen Kleidern mitzubringen.” Plötzlich runzelte Annis unwillig die Stirn. “Aber ich darf mich nicht zu sehr verwöhnen lassen. Eigentlich missfällt es mir, dass er darauf bestand, ich müsse heute Morgen im Bett frühstücken.”
“Überlegen Sie doch mal, Miss!”, mahnte Eliza. “Was glauben Sie denn, warum er mich gestern Abend in den Salon gebeten hat – und warum er das heute wieder tun wird? Weil Sie unter demselben Dach wohnen wie Ihr Bräutigam! Mit Ihrem ehrbaren Namen darf sich nicht einmal der Hauch eines Skandals verbinden, wenn er’s verhindern kann. Gewiss, seine Schwester wird bis zur offiziellen Bekanntgabe der Verlobung die Rolle der Anstandsdame übernehmen. Aber Seine Lordschaft weiß, wie schnell sich die Klatschmäuler über solche Dinge aufregen. Deshalb sehnt er Lady Pelhams Ankunft herbei. Zum Glück wird Ihre Patin morgen eintreffen.”
“Damit könnten Sie recht haben. Nachdem Colonel Hastie uns gestern Abend vor dem Dinner unangemeldet besucht hat, weiß auch seine Frau über die Verlobung Bescheid. Bald wird sich die Neuigkeit wie ein Lauffeuer verbreiten. Ehe man sich’s versieht, wird man von mir erwarten, meinen persönlichen Reitknecht mitzunehmen, wenn ich in den Sattel steige …” Ruckartig setzte Annis sich auf und warf beinahe das Frühstückstablett um, das auf der Bettdecke lag. “Heiliger Himmel, ich habe ganz vergessen, Jack Fletcher zu erwähnen! Oh, da wird es Schwierigkeiten geben!”
Um ein Missgeschick zu verhindern, entfernte Eliza das Tablett und stellte es auf eine Kommode. “Warum machen Sie sich deshalb Sorgen, Miss?” Vor ein paar Tagen hatte sie ihre Herrin auf einem Spaziergang zu Nanny Berrys Cottage begleitet und Mr. Fletcher als arbeitsamen, anständigen Burschen eingeschätzt. “Vielleicht braucht Seine Lordschaft im Augenblick keinen zusätzlichen Dienstboten. Aber er wird Jack sicher nicht wegschicken, ohne ihm eine neue Stellung zu verschaffen.”
“Darum geht es nicht.” Annis schlug die Decke zurück und schwang ihre Beine über den Bettrand. “Was unseren Freund Jack Fletcher betrifft, habe ich Ihnen nicht alles erzählt. Das muss der Viscount erfahren. Unverzüglich!”
“Auf keinen Fall, bevor Sie angekleidet und frisiert sind, Miss!”, entschied die Zofe in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. “Und schauen Sie mich nicht so erbost an, junge Dame! Als wollten Sie mich mit Ihrem Blick erdolchen … An den Gefühlen Seiner Lordschaft für Sie habe ich nie gezweifelt. Allerdings war ich mir nicht ganz sicher, was
Sie
für ihn empfinden – denn ich wusste nicht, ob Sie Ihre kostbare Freiheit aufgeben und auf ein gewisses ungewöhnliches Benehmen verzichten würden. Nun ist’s zu spät, um darüber nachzudenken. Wenn’s nach dem Willen Seiner Lordschaft geht, werden Sie bald die Viscountess Greythorpe sein. Also sollten Sie am besten schon jetzt akzeptieren, dass sich einiges ändern wird! Sie müssen immer untadelig aussehen, nicht nur dann, wenn’s Ihnen zufällig gerade in den Kram passt, sich darum zu bemühen. Und damit fangen wir
sofort
an!”
Da Eliza Disher mit aller Macht beweisen wollte, wie hervorragend sie die Pflichten einer Kammerzofe wahrnahm, dauerte es eine ganze Weile, ehe Annis dem Schlafzimmer entfliehen durfte. Perfekt zurechtgemacht, in einem der Kleider, die Lord Greythorpe aus Leicestershire mitgebracht hatte, das seidige, rötlich braune Haar kunstvoll hochgesteckt, stieg sie die Treppe hinab – vom Scheitel bis zur Sohle eine elegante Dame.
Der Viscount hatte angekündigt, den Vormittag damit zu verbringen, Verwaltungsangelegenheiten aufzuarbeiten, die während seiner Abwesenheit liegen geblieben waren. Deshalb wusste sie, wo sie ihn finden würde, und betrat die Bibliothek. Wie erwartet, saß er hinter dem Schreibtisch, über einige Papiere gebeugt.
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