Hochzeit im Herrenhaus
begegnet. Aber ich kenne ein anderes Mitglied Ihrer Familie seit vielen Jahren – Ihre Schwester Helen. Ihre Tante ist meine Patin. Und ich bin in Lady Pelhams Auftrag nach Hampshire gefahren.”
Das alles fand Sarah Greythorpe offensichtlich sehr interessant. Aber ihr unmittelbares Interesse galt ihrem Bruder. “Und auf dem Weg hierher entdeckten Sie den Viscount auf der Straße?”
Annis nickte. “Da ich ihn nie zuvor gesehen hatte, wusste ich nicht, wer er ist. Das erfuhr ich erst hier.”
“Ja, ja, ich verstehe …” Sarah berührte ihre immer noch sorgenvoll gerunzelte Stirn. “Aber was mir rätselhaft ist – wer trachtet Deverel nach dem Leben?”
Eher praktisch veranlagt, konzentrierte sich Annis auf die unmittelbare Zukunft, die sie für wichtiger hielt. “Sobald Ihr Bruder wieder zu Kräften gekommen ist, werden wir sicher etwas mehr herausfinden. Allzu lange wird es nicht dauern, bis er sich erholt. Ich habe bereits nach dem Doktor geschickt. Ist er ein tüchtiger Mann?”
“Ganz bestimmt”, beteuerte die Hausherrin ohne zu zögern. “Und sehr gewissenhaft.”
“Dann wird er sicher so schnell wie die Wetterverhältnisse es zulassen hier eintreffen.”
“Heute habe ich seine Dienste bereits beansprucht”, berichtete Sarah Greythorpe. “Gemeinsam mit mir besuchte er eine verletzte alte Dienerin im Ruhestand. Während wir uns um sie kümmerten, wurde ihm mitgeteilt, seine Anwesenheit sei in einem Haus erforderlich, das mehrere Meilen entfernt liegt. Und als er dorthin aufbrach, fielen die ersten Schneeflocken.”
“In diesem Fall sollten wir eher nicht mit seiner Hilfe rechnen. Es schneit immer stärker. Deshalb wird der Doktor wohl kaum versuchen, hierherzugelangen – das wäre ziemlich leichtsinnig. Auch ich möchte mich bei diesem Wetter nicht mehr ins Freie wagen, und so sehe ich mich gezwungen, um Ihre Gastfreundschaft zu bitten.”
Bevor Sarah antworten konnte, öffnete sich die Tür, und ein junges Mädchen trat ein.
Zunächst war Sarah Greythorpe nicht sonderlich begeistert, zwei fremde Personen für unabsehbare Zeit unter ihrem Dach beherbergen zu müssen. Aber im Lauf des Abends schwanden ihre Bedenken. Trotz der dramatischen Ereignisse dieses Tages empfand sie sogar eine gewisse Zufriedenheit, als sie ein zweites Mal zur Suite ihres Bruders im Westflügel eilte.
Dieses erstaunliche Gefühl wuchs, sobald sie das Herrschaftsgemach betrat und das Familienoberhaupt bei Bewusstsein antraf. Während ihres ersten Besuchs hatte der Patient tief und fest geschlafen. Von einem Kissenberg gestützt, inspizierte er den Suppenteller, der vor ihm auf einem Tablett stand. Seine unergründliche Miene hinderte Sarah nicht daran, auf der Bettkante Platz zu nehmen. Wie erfolgreich er seine Emotionen stets verbarg, wusste sie, und sie war daran gewöhnt.
“Wie geht es dir nach deinem langen Schlaf?”
Eine Zeit lang schaute er sie schweigend an, dann begann er die Suppe zu löffeln. Erst nachdem er den Teller leer gegessen hatte, antwortete er: “Nun, ich würde mich wesentlich besser fühlen, hätte ich nicht den Eindruck gewonnen, dass unser Haushalt von einer völlig fremden, wichtigtuerischen, aufdringlichen Person übernommen wurde.”
“O nein, da schätzt du sie ganz falsch ein”, protestierte seine Schwester erschrocken. “Sie ist nur an deinem Wohl interessiert. Davon bin ich fest überzeugt.”
Deverel Greythorpe lächelte grimmig. “Gewiss, weil sie es so gut mit mir meint, zwingt sie mich, ausschließlich Wasser zu trinken. Sonst nichts. Und sie gönnt mir nur eine dünne Brühe, obwohl ich fast den ganzen Tag nichts zu mir genommen habe.”
“Nun ja, Annis – Miss Milbank – erklärte mir, du müsstest vorerst Diät halten, um das Risiko einer Fieberkrankheit zu vermeiden.”
Sarahs sanfter, beschwichtigender Tonfall erschien ihm überflüssig und irritierte ihn. Bildete sie sich etwa ein, sie würde mit einem ungebärdigen Kind reden?
“Leider ist Dr. Prentiss nicht zu uns gekommen”, fuhr sie fort, als er sich eines Kommentars enthielt. “Kein Wunder … Seit dem Nachmittag schneit es ununterbrochen. Und wie Dunster mir mitgeteilt hat, liegen überall hohe Schneewehen. Wäre Annis nicht so geistesgegenwärtig gewesen, eine Kutsche zu schicken, würde ich mit Louise in Nanny Berrys Cottage festsitzen. Wir hätten wirklich nicht zu Fuß hingehen dürfen. Aber du weißt ja, wie schwierig es ist, unsere Cousine Louise zu amüsieren. Und so dachte ich, der
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