Hochzeit kommt vor dem Fall
natürlich. Aber er geht die Indizien gegen ihn von der starken statt von der schwachen Seite an.«
»Was hältst du selbst denn eigentlich von Sellon, Peter?«
Sie hatten oben gefrühstückt. Harriet saß angezogen am Fenster und rauchte eine Zigarette. Peter, noch mitten in der Morgenmantelphase, stand mit dem Rücken zum Feuer und wärmte sich die Beine. Der rote Kater war gekommen, um seinen Morgengruß zu entbieten, und hatte es sich auf seiner Schulter gemütlich gemacht.
»Ich weiß überhaupt nicht, was ich denken soll. Wir haben zu wenig in der Hand. Wahrscheinlich ist es auch noch zu früh zum Denken.«
»Sellon sieht nicht wie ein Mörder aus.«
»Sie sehen oft nicht so aus. Er sah auch nicht aus wie einer, der mir eine faustdicke Lüge auftischen würde, zumindest nicht ohne einen sehr triftigen Grund. Aber wenn Leute Angst haben, lügen sie.«
»Wahrscheinlich ist ihm erst, nachdem er das mit der Uhr gesagt hatte, aufgegangen, daß er damit zugab, im Haus gewesen zu sein.«
»Nein. Man muß schon sehr gewitzt sein, um vorauszudenken, wenn man Halbwahrheiten von sich gibt. Eine Geschichte, die von Anfang bis Ende gelogen ist, wird in sich logisch sein. Und da er offenbar überhaupt nicht vorgehabt hatte, die Sache mit diesem Streit zu erzählen, mußte er sich aus dem Augenblick heraus entscheiden. Was mich nicht losläßt, ist die Frage, wie Sellon ins Haus gekommen ist.«
»Noakes muß ihn eingelassen haben.«
»Eben. Da ist ein älterer Mann, der für sich allein und zurückgezogen in einem Haus wohnt. Ein junger Mann kommt daher, groß und stark und mit einer Mordswut im Bauch, der streitet mit ihm, beschimpft ihn und stößt möglicherweise Drohungen aus. Der alte Mann sagt ihm, er soll verschwinden, und knallt das Fenster zu. Der junge Mann geht an die Türen klopfen und versucht ins Haus zu kommen. Der alte Mann hat nichts zu gewinnen, indem er ihn einläßt; trotzdem tut er es und kehrt ihm freundlicherweise sogar den Rücken zu, eigens damit der zornige junge Mann ihn mit einem stumpfen Gegenstand von hinten angreifen kann. Möglich ist das, aber es ist, wie Aristoteles sagen würde, eine unwahrscheinliche Möglichkeit.«
»Aber wenn Sellon nun zu Noakes gesagt hat, er hat das Geld doch, und Noakes hat ihn eingelassen und sich hingesetzt, um ihm eine – nein, eine Quittung hätte er ihm natürlich nicht ausgestellt. Nichts Schriftliches. Höchstens wenn Sellon ihn bedroht hätte.«
»Wenn Sellon das Geld bei sich gehabt hätte, hätte Noakes ihm gesagt, er solle es durchs Fenster reichen.«
»Also schön, nehmen wir an, er hat es ihm hineingereicht – oder gesagt, er wolle es ihm hineinreichen. Als Noakes dann das Fenster öffnete, könnte Sellon selbst hineingestiegen sein. Oder? Diese Rahmen sind ziemlich eng.«
»Du kannst dir nicht vorstellen«, sagte Peter aus heiterem Himmel, »wie erfrischend es ist, mit jemandem zu reden, der methodisch vorzugehen versteht. Die Polizei hat hervorragende Leute, aber das einzige kriminalistische Prinzip, das sie begriffen haben, ist diese elende Phrase: Cui bono? Sie müssen hinter dem Motiv herjagen, was eigentlich Aufgabe der Psychologen ist. Geschworene sind genauso. Wenn sie ein Motiv sehen, sind sie gleich mit einem Schuldspruch bei der Hand, da kann ihnen der Richter noch so oft erklären, daß es nicht notwendig ist, nach einem Motiv zu suchen, und daß ein Motiv allein noch lange kein Beweis ist. Man muß aufzeigen, wie die Tat begangen wurde, dann kann man, wenn man will, noch ein Motiv zur Unterstützung nachschieben. Wenn eine Tat nur auf eine bestimmte Weise begangen werden konnte, und wenn nur eine einzige Person sie auf diese Weise begehen konnte, dann hat man den Täter, Motiv hin, Motiv her. Es geht um das Wie, Wann, Wo, Warum und Wer – und wenn man das Wie hat, hat man den Wer. Also sprach Zarathustra.«
»Ich glaube, ich habe meinen einzigen intelligenten Leser geheiratet. So konstruiert man ein Verbrechen natürlich von der anderen Seite her. Nach den Regeln der Kunst ist das vollkommen richtig.«
»Mir ist aufgefallen, daß Dinge, die in der Kunst richtig sind, es meist auch in der Praxis sind. Im Grunde ist die Natur ein gewohnheitsmäßiger Plagiator der Kunst, wie irgend jemand einmal gesagt hat. Mach nur weiter mit deiner Theorie – aber bedenke, wenn du dir etwas ausgedacht hast, wie eine Tat begangen worden sein könnte, ist damit noch lange nicht gesagt, daß sie so begangen wurde. Wenn du mir die Anmerkung
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