Hochzeit kommt vor dem Fall
exzellenter, unglücklicher Herr, dessen Name nicht genannt wurde, dessen Züge keine Konturen hatten, dessen Leben ein Geheimnis blieb; einbalsamiert für alle Ewigkeit in einem Ruhm, der vergoldete Fürstendenkmäler überdauerte! Er lebte im Hause seines Vaters, war also vermutlich jung und unverheiratet – ein kleiner Geck vielleicht, modisch gekleidet und mit seidigen langen Koteletten, wie sie damals gerade so beliebt wurden. Wie war er von der Chaise gefallen? War das Pferd durchgegangen? Hatte er zu tief ins Glas geschaut? Die Kutsche war, wie wir bemerken, nicht beschädigt und der Begleiter jedenfalls nüchtern genug, um ihn nach Hause zu bringen. Ein couragierter Herr (da er entschlossen wieder in die Chaise stieg), ein rücksichtsvoller Herr (da er seinen Unfall auf die leichte Schulter nahm, um seinen Eltern Sorgen zu ersparen); sein früher Tod mußte in der Damenwelt viel Heulen und Wehklagen hervorgerufen haben. Niemand hatte wohl damals ahnen können, daß fast achtzig Jahre später ein Polizeidirektor in einem ländlichen Bezirk seinen kurzen Nachruf lesen würde: »Ein Mann stürzte von einer Chaise …«
Nicht daß Polizeidirektor Kirk mit diesen biographischen Spekulationen sein Hirn belastet hätte! Er ärgerte sich nur darüber, daß in dem Buch die Höhe der Chaise über dem Boden nicht erwähnt war, oder die Geschwindigkeit, mit der sie fuhr. Wie ließ sich hinsichtlich der Wucht des Aufpralls dieser Sturz mit dem eines ältlichen Herrn von einer Trittleiter auf einen Eichenboden vergleichen? Der nächste angeführte Fall tat noch weniger zur Sache: Er handelte von einem achtzehnjährigen Burschen, der bei einer Schlägerei einen Schlag auf den Kopf bekommen hatte, noch zehn Tage lang seiner Arbeit nachgegangen war, am elften Tag Kopfschmerzen bekam und am zwölften starb. Dann kam ein betrunkener Fuhrmann von fünfzig Jahren, der von der Deichsel seines Fuhrwerks gefallen und ums Leben gekommen war. Dieser Fall erschien schon hoffnungsvoller, nur daß diese unglückselige Kreatur drei- oder viermal gestürzt und beim letztenmal von seinem eigenen Fuhrwerk überfahren worden war, weil das Pferd durchging. Immerhin konnte man dem aber entnehmen, daß auch ein Sturz aus geringer Höhe schon schwere Schäden anrichten konnte. Kirk dachte eine Weile nach, dann ging er ans Telefon.
Dr. Craven hörte sich Kirks Theorie geduldig an und gab zu, daß sie bestechend klang. »Nur«, sagte er, »wenn Sie von mir verlangen, daß ich dem Untersuchungsrichter erzähle, der Mann sei auf den Rücken gefallen, das kann ich nicht. Er hat keinerlei Blutergüsse am Rücken oder an der linken Körperseite. Wenn Sie meinen Bericht an den Untersuchungsrichter gelesen haben, müssen Sie gesehen haben, daß alle Verletzungen rechts und vorn waren, außer dem eigentlichen Schlag, der den Tod herbeiführte. Ich nenne Ihnen noch einmal die Verletzungen, um die es sich handelt. Der rechte Unterarm und Ellbogen weisen starke Prellungen mit ausgedehnten Blutergüssen aus den Oberflächengefäßen auf, woraus man ersieht, daß diese Verletzungen erhebliche Zeit vor Eintritt des Todes entstanden sind. Ich würde sagen, als ihn der Schlag hinter dem linken Ohr traf, wurde er von der Wucht des Schlages nach vorn rechts geschleudert und fiel auf die rechte Seite. Sonstige Verletzungen sind nur noch leichte Prellungen und Hautabschürfungen an Schienbeinen, Händen und Stirn. An Händen und Stirn war Staub, woraus man wohl schließen kann, daß er sich diese Verletzungen beim Sturz die Kellertreppe hinunter zugezogen hat. Kurz danach muß er gestorben sein, weil diese Verletzungen mit sehr geringfügigen Blutungen verbunden waren. Ich nehme natürlich die Hypostasen aus, die dadurch entstanden sind, daß er eine Woche lang im Keller auf dem Gesicht gelegen hat. Natürlicherweise befinden alle diese Male sich an der Vorderseite des Körpers.«
Kirk hatte die Bedeutung des Wortes »Hypostase« vergessen, doch der Ton, in dem der Arzt davon sprach, ließ ihn kaum hoffen, daß er sie zur Unterstützung seiner Theorie heranziehen könne. Er fragte, ob Noakes sich auch im Fallen irgendwo den Kopf angeschlagen haben und daran gestorben sein könne.
»Gewiß«, sagte Dr. Craven, »nur müssen Sie dann erklären, wie er sich beim Fallen den Hinterkopf angeschlagen hat und trotzdem auf dem Gesicht gelandet ist.«
Damit mußte Kirk sich zufrieden geben. Es sah ganz nach einem Schönheitsfehler in seiner herrlichen runden Theorie
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