Hochzeitsnacht in Acapulco
nun sah sie das Zimmer wieder klar umrissen.
Gabriel war inzwischen zum Fußende des Bettes gekommen und schaute kritisch auf sie herunter. Den Blick kannte sie gut. Genauso sah ihr Vater sie an, wenn er ihr zu verstehen geben wollte, dass sie ihn wieder einmal enttäuscht hatte. Und das war, laut ihrem Vater, ständig der Fall – schon seit ihrer Geburt, einunddreißig Jahre zuvor. Er hatte sich einen Sohn gewünscht, der einmal in seine Fußstapfen treten würde, keine Tochter, die es zwar versuchte, dabei aber jedes Mal zu straucheln schien.
Joelle wandte kurz den Blick ab. Sie fühlte sich verwundbar und gedemütigt, weil Gabriel Lafleur – ein Mann, den sie nur flüchtig kannte –, auf sie heruntersah und nun wahrscheinlich ihren Charakter beurteilte oder vielmehr dessen Mängel. Mit welchem Recht eigentlich? Gabriel wusste nur sehr wenig über sie, abgesehen davon, dass sie dumm genug gewesen war, ihn für anständig zu halten. So anständig, dass sie ohne Bedenken mit ihm essen gegangen war. Ein schwerwiegender Fehler!
Falls Gabriel jetzt dachte, dass sie sich vor seinen Augen in Tränen auflösen würde, dann würde er enttäuscht werden! Ihrem Vater gönnte sie ja auch nicht mehr die Genugtuung, sie weinen zu sehen. Nein, kein Mann sollte sie für ein schwaches Wesen ohne Mumm in den Knochen halten! Sie setzte eine ausdruckslose Miene auf, das reinste Pokergesicht, und funkelte Gabriel an. Es war hoffentlich eine Oscar-reife schauspielerische Leistung.
Allerdings half ihr die nicht sonderlich, die Situation zu ertragen, ja, es fiel ihr von Minute zu Minute schwerer. Dennoch sah Joelle Gabriel weiterhin unverwandt an. Seine Brust war muskulös und sonnengebräunt, die dunklen Haare darauf waren noch feucht vom Duschen. Dann folgte ihr Blick unwillkürlich einem Wassertropfen, der Gabriel über die Haut glitt, bis er schließlich von dem Handtuch aufgesogen wurde, das um die schmale Taille gewickelt war.
Joelle war die Kehle plötzlich wie ausgedörrt, und sie schluckte trocken. Rasch hob sie den Blick und merkte, dass Gabriel ahnte, was in ihr vorging. Da sie das nicht ertrug, schloss sie die Augen und hoffte inbrünstig, dass er verschwunden sein würde, wenn sie sie wieder öffnete.
Ja, mein Vater hat recht: Ich bin zu nachgiebig und feminin, um mich in der von Männern beherrschten Welt durchzusetzen, dachte Joelle selbstkritisch. Wenn sie Charakterstärke besitzen würde, wäre sie jetzt nicht in dieser demütigenden Lage.
Plötzlich spürte sie Gabriels Hand auf dem Arm und zuckte zusammen. Sie hätte ja wissen können, dass ihr der Wunsch nach Alleinsein nicht erfüllt werden würde.
“Ist alles in Ordnung mit dir?”, fragte Gabriel.
Joelle öffnete die Augen wieder. Einen Moment lang sahen sie und Gabriel sich an wie zwei Fassadenkletterer, die einander auf dem Dach desselben Hauses ertappt hatten.
“Natürlich”, versicherte sie ihm schließlich kurz angebunden.
“Gott sei Dank! Alles, was mir heute Morgen noch fehlt, ist eine weinende Frau”, erwiderte er ironisch.
“Was machst du überhaupt in meinem Zimmer?”, erkundigte Joelle sich, obwohl sie befürchtete, die Antwort schon zu kennen. Sie hoffte nur, dass ihr Gefühl sie trog. Eins wusste sie jedenfalls ganz sicher: Er würde keine einzige Träne in ihren Augen entdecken!
“Na ja …” Gabriel lächelte breit.
Er hatte die perfektesten Zähne, die sie jemals gesehen hatte: regelmäßig und weiß. Seine braunen Augen blickten klar, seine Lippen waren voll und zugleich fest – wie zum Küssen geschaffen. Sein Gesicht war markant, er war über einen Meter achtzig groß und äußerst maskulin, kurz gesagt: ein Bild von einem Mann.
“Ich habe mir erlaubt, mich hier wie zu Hause zu fühlen”, erklärte er höflich. Es schien für ihn nicht weiter von Bedeutung zu sein, sich in ihrem Zimmer aufzuhalten. Sie, Joelle, empfand das allerdings ganz anders! “Es macht dir doch hoffentlich nichts aus, dass ich dein Bad benutzt habe”, fügte er hinzu. “Ich dachte mir, unter den besonderen Umständen hättest du nichts dagegen.”
Wieder schluckte Joelle trocken. “Und welche sind das?”, fragte sie zögernd und sah ihm ins Gesicht, nachdem sie den Blick viel zu lange auf seinem flachen Bauch und den schmalen Hüften hatte ruhen lassen. Zum Glück hatte Gabriel wenigstens noch das Handtuch um! Und obwohl sie ihn einerseits gern länger betrachtet hätte, wünschte sie sich andererseits, sie könnte ihn mit einem
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