Hoehenfieber
Jahren immer wieder in ihrer Erinnerung grub – es war einfach zu lange her. Die Bilder versackten in ihrem Kopf wie von einer dicken Staubschicht begraben.
Dennoch breitete sich ein Hoffnungsschimmer aus. Hinter der Statue schloss sich Rasen an, vielleicht zwanzig oder dreißig Schritte, dann stand sie vor der mehr als mannshohen Hecke. Sadia sank auf die Knie. Sie versuchte, das dichte Strauchwerk mit den Händen zu teilen, zuckte beim Raschen der Blätter zusammen, und grub sich dennoch energisch vor. Weit kam sie nicht. Es mochten vielleicht drei Handbreit sein, dann verdichteten sich die zahlreichen Äste zu einem undurchdringlichen Gewirr. Dornen zerkratzten ihre Haut, doch sie spürte keinen Schmerz.
Auf allen vieren kroch sie an der Hecke entlang, suchte den Durchschlupf, den die Katzen nahmen. Als sie ihn fand, entfuhr ihr ein Aufschrei. Voller Panik schlug sie beide Hände vor den Mund. Sie hielt den Atem an, bis ihr schwindelte. Es dauerte Minuten, bis sie realisierte, dass sich nichts rührte und sich ihr rasender Puls beruhigte.
Sadia ließ sich flach auf den Boden gleiten. Sie schob die Arme in das Gebüsch und tastete sich voran. Bis zu den Schultern arbeitete sie sich vor. Dann berührten ihre Fingerspitzen Steinchen. Sie jubilierte innerlich. Der Weg lag greifbar nahe vor ihr.
Die Katzen hatten durch das ständige Hindurchschlüpfen einen Tunnel ins Geäst geschlagen. Viel zu klein, als dass Sadia hindurchgepasst hätte, aber sie sah eine Möglichkeit, den Durchschlupf zu erweitern. Sadia zog die Arme zurück und setzte sich auf. Langsam schob sie die Beine vor, zwängte sie in das Gestrüpp. Sie rutschte näher heran, beugte die Knie und half mit den Händen nach, den Durchlass Stück um Stück zu erweitern. Erneut zog sie sich zurück und drehte sich um. Dieses Mal kroch sie mit den Armen voran in die Hecke. Ihr Haar verfing sich in den Ästen. So würde sie niemals hindurchkommen.
Enttäuscht fuhr sie zurück und setzte sich auf. Tränen brannten in ihrem zerkratzten Gesicht. Eine Woge Enttäuschung rollte über sie hinweg und für einen schmerzhaften Moment wünschte sie sich, die Augen zu schließen und nie wieder aufzuwachen.
Ihre Finger widersprachen diesem Gedanken energisch. Wie ferngesteuert griffen sie nach dem überlappenden Stoff ihres Seidenkleides. Sie hob ihn an die Zähne und riss daran, half mit den Händen nach, bis sich ein großes Stück löste. Wie den geringelten Leib einer Schlange wand sie ihr Haar um den Unterarm, ließ es bis zur Hand hinabrutschen und drückte es an ihren Hinterkopf. Sie band den Stofffetzen fest um ihren Kopf. Dieses Mal würde sie sich durch das Hindernis wälzen wie ein Bulldozer. Keine Ästchen und keine Dornen würden sie aufhalten.
Sadia bemerkte erst, dass sie es tatsächlich geschafft hatte, als sie mit taumelnden Schritten an der Außenmauer ankam. Erschöpft ließ sie sich mit dem Rücken gegen die Wand fallen und sank in die Knie. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Wo hatte sie die Schlüssel? Waren sie ihr in der Hecke abhandengekommen? Adrenalin puschte ihren geschundenen Körper. Ihre Fingerspitzen berührten etwas Kühles, fuhren über die gezackten Metallzähne. Die tobenden Ungeheuer in ihrem Inneren schrumpften und verwandelten sich in einen Hoffnungsfunken. Mit zitternden Händen zog Sadia das Bund hervor und suchte nach dem passenden Schlüssel. Entgegen ihrer Befürchtung gelang es ihr auf Anhieb, das Schloss zu treffen.
Die Tür öffnete sich ebenso geräuschlos wie die ihrer Suite. Sadia wagte kaum, ihr Glück zu fassen. Sie glitt hinaus, schob die Tür hinter sich zu und schloss ab.
Kaum realisierte sie, das Haremsgelände verlassen zu haben, kannten ihre Füße kein Halten mehr. Sadia rannte los. Sie flog förmlich über die asphaltierten Wege, die sie sonst in einem Golfwagen passierte. Es mussten beinahe anderthalb Kilometer sein, die sie vom Palazzo trennten.
Schon nach einer viel zu kurzen Strecke ging ihr die Luft aus. Sie war körperliche Anstrengung nicht gewohnt. Und sie war auch nicht mehr die Jüngste. In einem Jahr würde sie die Fünfzig vollenden. Sadia hielt inne und presste ihre Hände in die stechenden Seiten. Sie gönnte sich nur wenige Atemzüge, dann ging sie weiter; dieses Mal gemessenen Schrittes.
Eine Armbanduhr trug Sadia nicht, doch sie hatte schon immer Zeiten gut abschätzen können. Diese Eigenschaft hatte sie an Latifa vererbt …
Bei dem Gedanken an ihre Tochter brannten ihr neue
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