Hoehenfieber
dass ihm heiß und kalt zugleich geworden war.
Sein Augenmerk strich ein letztes Mal über ihr blasses Gesicht. Ihre Lider zuckten und sie bewegte den Kopf unruhig hin und her. Offenbar ließ die Furcht sie nicht einmal im Schlaf los.
Kein Wunder! Er wollte nicht wissen, wie er sich in ihrer Situation fühlen würde. Der Wunsch, ihr zärtlich den langen Pony aus dem Gesicht zu streicheln, ließ seine Fingerspitzen zucken, doch er zog sich zurück, ohne die Hand nach ihr ausgestreckt zu haben. Auf keinen Fall wollte er sie wecken. Es war gut, dass sie endlich schlief.
Mittwoch, 28. September, Dubai
E inerlei, womit sie versuchte, sich abzulenken – Sadia schaffte es nicht, länger als ein paar Sekunden still zu sitzen , dann sprang sie wieder auf und hastete wie gejagt in ihrem Wohnraum auf und ab.
Acht Stunden und dreiundzwanzig Minuten war es jetzt her, dass Latifa gelandet war. Das war die einzige Information, die Majid ihr in Fadis Auftrag vor Stunden überbracht hatte. In der Zwischenzeit hatte sich Sadia wahrscheinlich jedes mögliche Szenario ausgedacht, was passiert sein könnte, warum sie keine weiteren Nachrichten erhielt. Es trieb ihr den Schweiß unaufhörlich aus allen Poren.
Sie stürzte ans Fenster und riss einen Flügel auf, wischte sich über das Gesicht. Vergeblich wartete sie auf einen Luftzug, der ihre Haut kühlte.
Sadia hetzte zum x-ten Mal in das Badezimmer ihrer Suite und ließ sich kaltes Wasser über die Handgelenke laufen. Dann benetzte sie ihr Gesicht, doch kaum nahm sie das Frotteetuch hinunter, benetzten schon wieder Tränen ihre Wangen. Es musste etwas Schreckliches passiert sein.
Warum meldete sich Ziad nicht? Er wusste doch auch, wann Latifa landen sollte und er hatte ihr versprochen, sie noch vor der Landung abholen und zum Haus ihrer Mutter bringen zu lassen, wo das Treffen organisiert werden sollte. Aber er hatte sich weder gemeldet noch erreichte sie ihn noch war die versprochene Limousine aufgetaucht. Nicht einmal im Haus ihrer Mutter wurden ihre Anrufe entgegengenommen und auch Fadi war wie vom Erdboden verschluckt.
Mit steifen Fingern tastete Sadia nach dem Schlüsselbund, den sie unter einer weiten Stofffalte ihres Gewandes an einem Gürtel trug. Dann wandte sie sich abrupt um. Sie musste hier raus. Tränenblind lief sie zur Tür.
Sadia schaltete das Licht aus, bevor sie das schwere, hölzerne Türblatt einen Spaltbreit öffnete. Nervös ließ sie die Finger über die Unebenheiten der zahlreichen Verzierungen gleiten. Durch ihre verschwommene Sicht nahm sie nicht wahr, ob sich jemand in dem langen Flur aufhielt, der zu den Schlafgemächern der Huren und den Kinderzimmern führte. Albernes Gekicher und das Weinen eines Babys drangen gedämpft durch geschlossene Türen.
Zum wiederholten Mal trocknete sie ihre Tränen. Sie musste sich beherrschen. So wie all die Jahre. Sie hatte es doch immer geschafft, warum wollte der Fluss der Tränen jetzt nicht versiegen? Sie schluckte hart. „Für Latifa“, flüsterte sie tonlos. „Ich muss es für Latifa schaffen.“ Würde sie halb blind herumirren, liefe sie wahrscheinlich geradewegs in die Arme eines Eunuchen, der sie auf schnellstem Weg in ihre Zimmerflucht zurückgeleiten würde.
Wie den Huren und den drei Nebenfrauen war es ihr nicht gestattet, den Harem in der Nacht zu verlassen. Am Tage genoss sie als Einzige ungehinderten Ein- und Ausgang, doch ab Einbruch der Dunkelheit schlossen sich auch für sie sämtliche Türen in die Freiheit. Beinahe hätte sie bitter aufgelacht. Freiheit!
Dieses Wort fand seit fast einem Vierteljahrhundert eine neue Bedeutung in ihrem Wortschatz. Es stand nicht mehr für Unabhängigkeit oder Bewegungsfreiheit, auch nicht für Eigenverantwortlichkeit oder Selbstbestimmung. Es gab ihr nur noch das Recht, das abgesperrte Gelände innerhalb der weitläufigen Grundstücksgrenzen zu verlassen und die zahlreichen Freizeitmöglichkeiten des Palazzos in Anspruch zu nehmen, seien es der Golfplatz, die zahlreichen Gärten oder die Bibliothek, in der sie sich nach Belieben Bücher ausleihen durfte. Und selbst dabei schränkte die ständige Begleitung ihres Leibwächte r s Gibril jeden einzelnen Schritt von und bis zur Haremspforte ein.
Sadia straffte sich. Sie öffnete die Tür gerade so weit, dass sie hinausschlüpfen konnte, und zog sie hinter sich geräuschlos zu. Barfuß schlich sie dicht an der Wand entlang durch den dunklen Korridor. Siebenundvierzig Schritte bis zur Treppe. Wie
Weitere Kostenlose Bücher