Hoehenfieber
Tränen in den Augen.
Es konnten nicht mehr als zwanzig Minuten vergangen sein, seit sie das Tor passiert hatte. Die Umrisse des Palazzos schälten sich aus der Dunkelheit. Sadia suchte vergeblich nach erleuchteten Fenstern. Das Gebäude lag vor ihr wie ausgestorben.
Auch hier besaß sie Schlüssel – sowohl für das Hauptportal als auch für die Nebeneingänge. Sadia entschied sich für den Wintergarten. Im von hier aus nicht sichtbaren Küchentrakt würden noch Dienstkräfte mit Vorbereitungen für das Frühstück am nächsten Morgen beschäftigt sein und Sadia brachte die Geduld nicht auf, das halbe Gebäude zu umrunden, um es am Lieferanteneingang zu versuchen.
Mit jedem weiteren Schritt wurde es unwichtiger, wem sie begegnen würde. Mittlerweile achtete sie nicht mehr allzu penibel darauf, sich möglichst lautlos zu bewegen. Wenn Rashad sie erwischte, würde sie das ganze Haus zusammenschreien, sollte er sich grob verhalten. Das wagte er nicht in Gegenwart des Hauspersonals oder wenn auch nur die Möglichkeit bestand, dass ein Bediensteter auftauchen könnte. Die einzige Gefahr bestand darin, dass Rashad befahl, sie zurück in ihre Gemächer zu bringen. Aber wenn sie sich weigerte … im Grunde hatte sie bereits halb gewonnen mit ihrer gelungenen Flucht aus dem Harem.
Doch sie würde Rashad nicht aufsuchen.
Leise öffnete sie die Tür des mit Reliefs, Gesimsen und schneckenförmigen Voluten verzierten Anbaus im römischen Stil.
Stille umfing sie wie ein schwerer, erstickender Mantel. Das Geräusch einer Wanduhr geriet zum Ticken einer Bombe. Plötzlich fühlte sich Sadia keiner Auseinandersetzung mehr gewachsen – weder mit Rashad noch mit Fadi. Ihr Mut und ihre Aufsässigkeit kippten, gerieten zu einem Fluchtimpuls, der sie auf der Stelle davonrennen lassen wollte.
„Latifa“, murmelte sie und der Name ihrer Tochter rief rote Schlieren vor ihrem B l ick hervor, bis sie merkte, dass ihr ein Tropfen Blut von der Stirn ins Auge gerollt war. Sie wischte mit dem Handrücken darüber.
Rashads Privaträume lagen im Ostflügel und der einzige weitere Gebäudeteil, der Suiten barg, war der Nordflügel. Um den Zugang zu finden, kannte sich Sadia gut genug in dem Gebäude aus, doch sie wusste nicht, welche der zahllosen Räume Fadi bewohnte, nicht erst, seit sich Alessa im Palazzo aufhielt.
Am Kopf einer Treppe hielt sie inne. Bis hierher musste sie mit ihren schmutzigen und blutenden Füßen bereits ein Vermögen beim Laufen über die hellen Teppiche vernichtet haben. Rashad würde sie steinigen lassen. Es gab nur noch den einen Weg, den sie bereits vor Jahren hätte gehen sollen. Sie musste ihr Leben hinter sich lassen und fliehen. Leise Zweifel beschlichen sie, ob Fadi ihr dabei behilflich sein würde. Es passte nicht in seine Pläne. Er wollte ihr ein behagliches Leben einrichten, doch was anderes erwartete sie, als vom Regen in die Traufe zu geraten? Ob sie Rashads Harem leitete oder das ihres Sohnes, es machte keinen Unterschied. Selbst dann nicht, wenn Fadi die Huren nicht in sein Bett ließ. Für sie bedeutete es das gleiche Leben wie bisher.
Wie viel lieber hätte sie sich als Großmutter mit einem Stall voller Enkelkinder um sich herum gesehen. In einem gemütlichen Haus auf dem Land, tief in der Provence, umgeben von violett leuchtenden Lavendelfeldern. Während ihres Studiums hatte sie zahlreiche Touren durch Frankreich unternommen und sich unsterblich in ein Dörfchen nahe der ehemaligen Papststadt Avignon verliebt. Es schmeckte bitter, dass sie sich längst nicht mehr an den Namen erinnerte und die Bilder in ihrem Kopf von einem Grauschleier überzogen waren. Wie gern hätte sie die Welt entdeckt, um am Ende zahlloser Reisen in ein wohnliches Heim zurückzukehren. Nicht in einen Palast. Wie leicht wären ihre Wünsche mit all dem Geld ihres Mannes und ihrer Mitgift zu realisieren gewesen. Stattdessen hatte sie Dubai seit über zwanzig Jahren nicht mehr verlassen.
Sadia straffte die Schultern. Sie war so weit vorgedrungen, jetzt musste sie den letzten Schritt gehen. Ob Fadi schnarchte?
An jeder Tür hielt sie inne und legte den Kopf an das Holz. Nichts als entmutigende Stille schwappte über sie hinweg. Nachdem sie einige Türen passiert hatte, rang sie sich dazu durch, einen der Knaufe zu drehen. Ihr Herz sackte in die Kniekehlen.
Verschlossen.
Was hatte sie erwartet? Dass sich die Tür öffnete, das Licht anging, und eine Schar glücklich lachender Familienangehöriger ihr ein freudiges
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