Höhenrausch (German Edition)
für abgegessene Teller und volle Aschenbecher. Wenn euch einer in den Hintern kneift, macht kein Geschrei, sondern kommt in die Küche. Da spucken wir dem Schwein dann alle gemeinsam in die Nachspeise. Fragen? Okay, dann an die Arbeit. Warte mal, Lilly, raus mit deinem Zungenpiercing!»
Ich kam mir vor wie Methusalem auf der Neugeborenenstation. Hier war ja keiner über zwanzig! Ich betrachtete Nele und Lilly und dachte, dass ich die beiden zur Welt hätte bringen können, wenn ich nicht immer an Typen geraten wäre, die sich mit dem Nachwuchs noch etwas Zeit lassen wollten.
Lilly hatte vergangenes Wochenende auf Sylt einen süßen Kite-Surfer kennen gelernt und ihm gegenüber behauptet, sie sei schon zweiundzwanzig. Allmächtiger, ein Mädchen, das sich älter macht, um Jungs zu beeindrucken! Womöglich würde sie zu diesem Zweck auch ihr Körpergewicht nach oben schummeln.
Nele, erfuhr ich, hatte ihrer fünfundvierzigjährigen Mutter zum Geburtstag eine Homepage geschenkt. Meine Mutter weiß nicht mal so genau, was das Internet eigentlich ist, und freut sich an jedem Geburtstag, dass sie ihn überhaupt noch erlebt und über die Flasche Eckes Edelkirsch von meinem Vater.
Zu mir waren die beiden Mädchen ausgesprochen freundlich, wie man es älteren Mitbürgern gegenüber eben so ist. Nele fragte vorsichtig: «Haben Sie schon mal im Service gearbeitet?»
«Ja, vor zwanzig Jahren. Ich mache das heute Abend nur Erdal zuliebe. Und könnten wir uns vielleicht duzen?»
Man kommt sich ja eigentlich immer erst dann alt vor, wenn man es mit Menschen zu tun bekommt, die einen alt finden. Oder wenn man in der Sauna zwischen zwei neunzehnjährigen Jungs sitzt, die sich über einen hinweg unterhalten, als sei man ein versehentlich liegen gelassenes Badelaken in Mittelbraun.
Ich will nicht behaupten, dass ich das bin, was man «jung geblieben» nennt, denn das klingt schrecklich. Aber alt?
Als Zwanzigjährige dachte ich, ich würde mich mit dreißig alt fühlen. Heute denke ich, dass ich mich wahrscheinlich mit fünfzig alt fühlen werde. Wenn ich mir allerdings die heute Fünfzigjährigen anschaue bei Bungee-Jumping, Complete Body Workout, Marathon oder Ehebruch, dann machen die eigentlich auch nicht den Eindruck, als würden sie sich so alt fühlen, wie sie sind. Irgendwie auch beunruhigend.
Wann ist der Zeitpunkt gekommen, wo man sich endlich zur Ruhe setzen darf? Im Ohrensessel gehobene Wohnzeitschriften durchblättern, ab nachmittags Sherry saufen und den Enkeln mit Geschichten aus den Siebzigern auf die Nerven fallen?
Ich will nicht mit neunundfünfzig noch ein schlechtes Gewissen haben, weil ich es nicht rechtzeitig zur Bauch-Beine-Po-Gruppe geschafft habe. Und der Gedanke, mit sechzig immer noch auf den Nachtisch zu verzichten, macht mich völlig fertig.
Ich bin dazu verdammt, eine ständig fettverbrennende und sich stetig weiterbildende iPod-Oma zu werden. Man hat uns unser natürliches Recht aufs Altsein genommen!
Rückblickend betrachtet habe ich mich wohl nie älter gefühlt als an meinem einundzwanzigsten Geburtstag. Da hatte ich das Gefühl, alles schon erlebt zu haben. Ich hatte Erich Fromm und Nietzsche gelesen, war zweimal verlassen worden und hatte einen Seitensprung, zwei Blasenentzündungen und drei Proseminare Anglistik hinter mich gebracht.
Als Stephan mich verließ, hatte ich das Gefühl, das Maximum an Leid erfahren zu haben. Als Stephan anrief und fragte, ob wir uns noch einmal sehen könnten, hatte ich das Gefühl, das Maximum an Glück erfahren zu haben.
Ich war sicher, dass alles, was noch kommen würde, zweitklassig sein würde, weil ich alles, was es wert war, gefühlt und erlebt zu werden, schon einmal gefühlt und erlebt hatte. Was sollte das Leben mir noch zu bieten haben?
Ich fürchtete, mich den Rest meiner Zeit langweilen zu müssen. Und wenn ich ganz ehrlich bin, dann habe ich mich in meinem Leben tatsächlich zu viel gelangweilt. Ich finde, zwischen zwanzig und dreißig vergeuden die meisten viel zu viel Zeit mit den falschen Menschen, den falschen Filmen und den falschen Büchern. Wenn man die Stunden zusammenrechnet, habe ich mich bestimmt zwei Jahre lang gelangweilt, bloß weil ich zu feige war, nach zehn Minuten das Kino wieder zu verlassen, ein Buch nach Seite dreißig nicht weiterzulesen oder einem faden Typen, der sich mit mir verabreden wollte, zu sagen: «Nein danke. Nicht heute und auch nicht in Zukunft!»
Inzwischen bin ich rigoroser. Mache weniger Kompromisse und
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