Höhlenangst
unsere Abseiler ausbauten und tauschten. Ich habe meinen zuerst ausgebaut und ihn ihr am Gurt festgemacht. Das Seil hat sie selber eingebaut. Allerdings hing es durch. Aber das hätte ich gemerkt, bevor sie sich dem Durchschlupf näherte. Ich musste noch den Abseiler reinigen, den ich von ihr bekommen hatte. Dazu habe ich das untere Ende meines Seils genommen.«
»Was heißt das?«
»Auch mein Seil hing durch, total. Ich habe den Schluss genommen und ein paarmal durch die Scheiben gezogen, um sie zu reinigen. Ich wollte nicht die Seilstre cke verschmutzen, die ich bis auf den Grund der Unteren Halle brauchen würde.«
So viel vorausschauende Umsicht, und genau die war Sibylle und ihm zum Verhängnis geworden.
»In einer Höhle sieht man Pferde kotzen, Lisa. Da fal len die Masken. Immer hat Sibylle ihre Ängste überspielt. Ich hatte ja keine Ahnung!«
»Sie hatte doch schon Höhenangst beim Klettern.«
»Was?«
»Das hat sie Janette erzählt.«
»Sie hat es gut überspielt. Und ich habe zu wenig darüber nachgedacht, warum sie so ungern allein aus dem Haus ging, warum sie unbedingt wollte, dass ich mehr mit ihr unternehme. Sie hatte Angst vor der Welt da draußen. Angst, allein dazustehen.«
»Und was geschah dann?«
»Mir tat wieder das Knie weh. Seit meiner Meniskusoperation vor sechs Jahren habe ich immer wieder Probleme. Während ich den Abseiler reinigte, dachte ich an den langen Aufstieg. Da wollte ich mir den Aufstieg aus der Unteren Halle sparen. ›Weißt du was?‹, sagte ich zu Sibylle. ›Geh doch alleine. Ich warte hier. Du kannst das. Es braucht nur ein bisschen Mut!‹ Es war …« Er schüttelte den Kopf und blickte mich beinahe verwundert an. »Es war, als hätte ich Spiritus in einen Grill gegossen, der nicht brennen will. Das hat sie mir immer vorgeworfen, dass ich sie alleine lasse. Zu Hause reden wir gesittet, wir schreien uns sogar gesittet an. Aber hier unten sind wir Krokodile. Die Kiefer klappen, das Wasser schäumt, und einer ist stärker und zieht den anderen unter Wasser.«
»Und was genau ist geschehen, Hark?«
»Plötzlich hat sich Sibylle an mich geklammert. ›Lass mich nicht alleine!‹, schrie sie. ›Verlass mich nicht!‹ Ich habe es erst gar nicht verstanden. Sie war in Panik. Und ich stand dort neben dem Trichter und war praktisch nicht angeseilt.« Er stöhnte. »Es war nicht das erste Mal, dass ich erlebte, dass jemand in Panik geriet. Da gilt, was für die Rettungsschwimmer gilt, wenn sich jemand an einen klammert. Zuerst den Griff lösen, notfalls mit Gewalt, sonst ersaufen beide. Aber Sibylle … Sibylle war meine Frau. Und sie suchte Schutz bei mir. Wie hätte ich sie von mir stoßen können? Womöglich in den Trichter! Dabei bestand für sie keine unmittelbare Lebensgefahr. Sie war ja angeseilt. Nur ich nicht. Oder so gut wie nicht, denn ich hatte das Seilende im Abseiler, mein Seil würde sich nicht straffen, bevor ich unten lag.«
Er bedeckte das Gesicht mit den behandschuhten Händen und atmete schwer. Ich ließ ihn atmen. Nach einer Weile tauchte er wieder auf.
»Sie wäre schlimmstenfalls ein paar Meter ins Seil gehagelt. Gefährlich, aber nicht tödlich. Doch ich musste, wenn ich in den Trichter rutschte, die ganzen zwanzig Meter hinunter auf den Hallengrund stürzen.«
Ich sah es vor mir.
»Sie klammerte sich an mich. Ich sah nicht, wo ich hintrat. Ich verlor den Grund unter einem Fuß und riss sie mit. Wir fielen. Wir krachten gegen die Wand. Sibylles Abseiler blockierte. Mich riss es von ihr weg, nach unten. Ich hatte keine Chance, mein Seil auch nur zu erfassen.«
In der Stille knirschte sein Schlaz. Ein Karabiner klirr te gegen den anderen. Ein Steinchen knisterte unter einem kaum bewegten Fuß.
»Ich war nicht gleich bewusstlos«, fuhr er fort, sto ckend jetzt. »Aber ich konnte nichts mehr sagen, ihr nichts zurufen. Ich dachte nicht, dass sie so schwer verletzt sei, dass sie nicht mehr selbst am Seil aufsteigen konnte. Es waren doch nur ein paar Meter. Ich weiß noch, dass ich dachte: Sie wird’s überleben, aber ich nicht.«
»Es ist nicht deine Schuld, Hark.«
»Doch. Hätte ich Sibylle behandelt wie jeden anderen Paniker, hätte ich mich aus ihrem Griff befreit, wäre sie vielleicht ein Stück abgestürzt, aber ich hätte sie hinterher aus dem Seil retten können.«
Die schlimmste Variante, das war sie: die Panik des Beschützers. Sie hatte das wechselwarme Höhlenkrokodil zum heißblütigen Ehemann Hark Fauth herabgewürdigt. Und
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