Höhlenangst
Janette. Ich brauchte frische Unterwäsche. Und eine Zahnbürste.«
»Kriegst du von mir.«
»Und morgen muss ich mich um einen Staatsanwalt kümmern.«
»Du glaubst doch nicht immer noch, dass er der Tote im Schacht war!« Sie lachte.
Hatte ich anlässlich meiner ersten Leiche eigentlich auch dermaßen gelacht? Ein Wurm von Angst fraß sich durch mein Gedärm.
Sie zog sich, kaum zu Hause, an ihren Laptop zurück, um den Artikel für ihr Blatt zu schreiben, und ich fragte Florian, ob ich mal seine Flatrate benutzen dürfte.
Sein Flachbildschirm stand in einem ausgebauten Dachstübchen. Ein Männernest mit Hometrainer, Fernseher und Bücherregalen voller broschierter Buntware über Computer, Kommunikationspsychologie und Speläologie. Florian hatte in Tübingen Psychologie, Soziologie und Betriebswirtschaft studiert – was nicht sonderlich gepeilt aussah – und entwarf für die Firma IPE Konzepte für ein Motivations- und Teamtraining des mittleren Managements.
»In den Kletterparks und Höhlen der Schwäbischen Alb«, ermunterte mich eine Broschüre auf dem Tisch, »sollen in der Gruppe das Verhalten in außergewöhnlichen Situationen, Gemeinschaftssinn, Risikobereitschaft, Verantwortungsbewusstsein und Belastbarkeit getestet und gestärkt werden.«
Ich vertrieb alle Höhlenleichen aus meinem Kopf und googlete mich über die Alb durch Münsingen, das Alte Lager und die Herzog-Albrecht-Kaserne. Die Laichinger Tiefenhöhle kam mir immer wieder in die Quere. Ansonsten gab es nicht viel. An einem Pfingstmontag hatten offensichtlich nicht nur Ämter, Behörden und Parteibüros dicht, sondern auch schwäbische Heimseiten im weltweiten Netz. Nur so viel verriet es mir: Es gab eine Stadt Münsingen und einen Gutsbezirk Münsingen. Der war gemeindefreies Gebiet und besaß keine gewählte Gemeindevertretung. Den Gutsbezirksvorsteher bestellte die Oberfinanzdirektion. Er diente genau 259 zivilen Einwohnern und hatte sein Büro in der Stadt Münsingen.
Nach einer Weile fiel mir auf, dass die Natra sich offensichtlich zu fein für einen Internetauftritt war.
Immerhin existierte sie, wie ich dem elektronischen Bundesanzeiger entnehmen konnte. Der Eintrag der Natra GmbH ins Handelsregister war im Oktober vorigen Jahres bekannt gegeben worden. Sitz der Gesellschaft mit beschränkter Haftung war Laichingen. Geschäftsführer wie bekannt, Erich Schorstel, der ehemalige persönliche Referent des Alten. Sein Stellvertreter hieß auch irgendwie. Die Natra war dem Trend der Zeit gefolgt und hatte die Kosten aufgeteilt. Ein Drittel trug das Land, zwei Drittel brachten Privatinvestoren auf, die wiederum eine Beteiligungs-GmbH gebildet hatten, deren Geschäftsführerin Heidemarie Wunder-Schorstel hieß.
Na!
Hauptgesellschafter der Beteiligungs-GmbH war nicht Alfons Schorstel mit seinen Canfax-Naturtextilien, sondern ein gewisser Ivan Räffle, ein Bauunternehmer mit Firmensitz in Laichingen. Er brachte achtzig Prozent des Kapitals auf. Die anderen beiden Gesellschafter hießen IPE und Canfax.
Ein insgesamt doch sehr familiäres Unternehmen.
Aber reichte das, um die Justiz in Gestalt von Richard Weber auf den Plan zu rufen? Hätte er dazu geneigt, sich mit der Politik anzulegen, wäre er niemals Oberstaatsanwalt für Wirtschaftsstrafsachen geworden. Richard stammte aus Balingen, der Stadt der Millionäre, und hatte als Pietist mit der Konfirmation den Wert der Geldabschöpfung aus den gesellschaftlichen Gegebenheiten als Liebesbeweis Gottes verinnerlicht. Auf die journalistische Grobmotorik, mit der wir aus individueller Geldvermehrung einen Skandal machten, reagierte er mit viel juristischer Abgeklärtheit.
Und ich war keine Journalistin mehr. Um herauszufinden, ob ich überhaupt noch etwas war, hätte ich jetzt Richard mal wirklich gebraucht. Aber der steckte … Angstwürmer verstopften mir die Luftröhre.
Ich gruppierte die Suchbegriffe neu. Plötzlich fiel mir eine Ausschreibung aus dem Netz in den Schoß. Es war nicht die Ausschreibung selbst, sondern eine Vorinformation über eine öffentliche Ausschreibung des Gutsbezirks Münsingen, die Florians IPE ins Netz gestellt hatte.
Der Auftrag bewegte sich in einem Kostenrahmen von 180 Millionen Euro und umfasste Aushub- und Erdbewegungsarbeiten und die Planung und Ausführung eines Wegenetzes unter Berücksichtigung eventueller Gefahrenpotenziale durch Kampfmitteleintrag in den Boden bis hin zur Beschilderung eines Naturlehrpfads mit Beobachtungsplattformen für
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