Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Höhlenangst

Höhlenangst

Titel: Höhlenangst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
Vom Netzwerk:
eigentlichen Bärenhöhle erreicht hatten, hatte Hark mit seinem Leben abgeschlossen und ließ sich führen wie ein Schlachtlamm. Vor uns tat sich eine herrliche Halle mit Bärenskeletten und stolzen Tropfsteinkerzen auf, die von Zäunen geschützt wurden. Aus den flackernden Sinterflammen löste sich Gerrit und kam auf uns zugerannt.
    »Papa!«
    Ich entließ ihn. Hark wankte gegen den Zaun.
    »Was ist denn hier los?«, fragte Janette eisig.
    »Du musst keine Angst haben, Papa«, sagte Gerrit. »Ich bin doch bei dir.«
    Er erholte sich binnen Sekunden, kaum war die schwe re Eisentür am Ende des Bergdurchgangs, den die Höhle bildete, zugefallen. Waldvögel und grauer Himmel mit Nieselregen stellten Harks Welt wieder auf die Beine.
    Janette zupfte an ihrer Unterlippe, die junge Mutter drehte ihre Hände an den Knäufen des Kinderwagens, in dem die kleine Marie immer noch schlummerte, die jungen Amerikaner lächelten befremdet, deren Großeltern blickten neugierig, Laura bohrte sich den Finger in den Riechgang, und Herr Winterle versuchte so auszusehen, als hätte er nichts gesehen.
    Hand in Hand standen Vater und Sohn vor der Eisentür und blickten uns an. Blond und athletisch der eine, rabendunkel und zierlich der andere. Ein trauriges Gespann einsamer Tapferkeit.
    »Ja«, sagte Hark langsam, »es ist wahr: Ich leide an Klaustrophobie.«
    Janette lachte auf und schlug sich die Hand auf den Mund.
    »Es fing allmählich an nach meinem Unfall. Zuerst konnte ich nicht mehr Fahrstuhl fahren, dann wurden mir auch die Treppenhäuser zu eng, und inzwischen ertrage ich keine geschlossenen Räume mehr, wenn nicht ein Fenster offen steht.«
    »Aber warum hast du denn nie etwas gesagt, Hark?«, rief Janette.
    Winterle kratzte sich den Kopf. Die Amerikaner, die mehr Deutsch verstanden, als man ihnen zutraute, blick ten ein wenig verwundert auf den Mann, den man ihnen als den größten Höhlenforscher der Schwäbischen Alb verkauft hatte.
    »How funny, isn’t it?«
    »Wozu darüber reden?«, sagte Hark. »Damit sie Gerrit in der Schule verspotten, sein Vater sei ein Schisser?«
    »Aber das macht mir doch nichts aus«, behauptete Gerrit. »Wer so was sagt, ist voll behindert.«
     

18
     
    »Hast du das gewusst?«, brach Janette in Engstingen das Schweigen. »Hm? Sag, hast du das gewusst? Verdammt, wieso ist mir das nie aufgefallen? Warum sagt er denn auch kein Wort. Himmel, man hätte es doch verstanden! Nach seinem Unfall, die Frau tot, er knapp der Querschnittslähmung entronnen. Da muss man doch Panik entwickeln beim Gedanken, wieder in eine Höhle zu müssen! Wie heißt das? Ein posttraumatisches Syndrom oder so?«
    »Und wenn er das schon vorher hatte?«, überlegte ich. »Wenn ein klaustrophobischer Anfall der wahre Grund für Sibylles tödlichen Unfall war?«
    »Was?« Janette ging vom Gas. Hinter uns hupte es.
    »Die schlimmste Variante«, murmelte ich.
    »Wie?« Der Golf machte einen Satz nach vorn, denn Janette hatte das Gaspedal wiedergefunden.
    »Seine Frau aus Eifersucht umgebracht zu haben«, erklärte ich, »ist für Hark keine ehrenrührige Vorstellung. Aber der Gedanke, die Kontrolle über die Situation verloren zu haben, damit kann er nicht leben. Seine Klaustrophobie schützt ihn davor, sich in eine Situation zu bringen, wo er erstens die Kontrolle verliert und sich zweitens erinnern müsste, so wie vorhin in der Bärenhöhle.«
    »Warum ist er dann reingegangen?«
    »Weil er wusste, dass ich es weiß, und weil ein Mann lieber stirbt als zuzugeben, dass er Angst hat. Ich nehme an, er hat geglaubt, er könnte es beherrschen.« Für ein paar Minuten mit dem Testosteron eines Flirts gepanzert. Aber das dachte ich nur. Oder er hatte mich verarscht. Womöglich war er gar nicht der verletzte Held, den er spielte, sondern ein besonders abgefeimter Mörder, der dringend ein Alibi brauchte und es sich von einer dummen Philippine Marlowe wie mir mithilfe eines grandiosen Schauspiels bestätigen ließ. Aber konnte man diese Angst spielen?
    »Und woran hat er sich erinnert?«, fragte Janette.
    »Daran, dass er mit Sibylle alleine war und keiner ihr zu Hilfe kommen konnte.«
    Janette warf mir einen kurzen Blick zu. »Lisa, das ist banal. Das stand im Gutachten. Andererseits …«, marple te sie, »könnte das alles auch ein bisschen Show gewesen sein. Ich meine, er würde doch mildernde Umstände kriegen, wenn ein klaustrophobischer Anfall zum Tod seiner Frau geführt hätte.«
    »Er ist aber nicht angeklagt«, gab ich zu

Weitere Kostenlose Bücher