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Höhlenangst

Höhlenangst

Titel: Höhlenangst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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gesehen?«, fragte ich.
    »He! Das klingt wie eine Frage aus dem Tatort . Du glaubst doch nicht wirklich, ich hätte irgendetwas …« Er lachte hart auf. »Ich? Wo ich schon mit dem Tod meiner Frau nicht klarkomme, an dem ich ziemlich sicher schuld bin. Ich habe jemanden getötet, Lisa. Das ist ein Alptraum, der nie endet. Du hast ein Leben ausgelöscht. Du hast den Menschen, die ihm nahe standen, Leid gebracht. Das tut man sich kein zweites Mal an, verstehst du? Winnie war mein Freund, ein echter Kumpel. Wahrscheinlich verdanke ich ihm ein Dutzend Mal mein Leben. Er hinterlässt Frau und drei Kinder. Und Eva ist mit dem vierten schwanger. Wie hätte ich ihr das antun können? Wo ich doch täglich Gerrits stumme Trauer vor Augen habe und … und meine eigene kaum aushalte.«
    Er hängte das Rad in die Gabel und gab ihm Schwung. Es eierte.
    Von der Scheune her bummelten die Kinder herbei, und Hark lächelte die Bitterkeit aus seinem Gesicht.
    »Die haben«, rief Laura, »einen echten Aschähoppe lix. Der ist sooooo groß!« Sie breitete die Arme aus.
    »Toll!«, sagte ich.
    »Und die wollen ihn fliegen lassen. Ganz bald. Da darf ich zugucken.«
    »Das wird aber noch ein bisschen dauern, Laura«, antwortete Hark.
    »Darf ich eine Limo haben?«, rief Laura.
    Hark erklärte, dass es keine Limo gebe, aber sie könne ein Glas Wasser haben. Daraufhin hatte Laura keinen Durst mehr.
    »Gerrit«, schlug Hark daraufhin, das Fahrrad auf die Beine stellend, vor, »hättest du nicht Lust zu zeigen, wie gut Graf Huckebein rechnen kann?«
    Gerrit rannte folgsam in die Küche und kam mit der Dose Haselnüsse und einem kleinen gläsernen Nachtischschälchen wieder.
    Wer allerdings jetzt fehlte, war der vermaledeite Rabe.
    Hark steckte zwei Finger in den Mund und stieß einen markerschütternden Pfiff aus. Nach ein paar Sekunden stürzte Huckebein aus dem Himmel. Ich duckte mich und prallte gegen Hark. Und ehrlich: Ich wäre am liebsten unter seine Fittiche gekrochen. Gegen seine Rippen klopfte ein leises Lachen. Er beeilte sich so wenig, mich loszulassen, dass es schon wieder langweilig war.
    Gerrit hockte sich zu dem Raben auf den Boden, entnahm der Blechdose drei Haselnüsse und steckte sie unter das umgedrehte Glasschälchen. Daneben legte er fünf rote Spielwürfel aus. Drei davon nahm er wieder weg. Der Rabe äugte. Gerrit legte zwei wieder hin. Der Rabe begutachtete die Situation mit dem anderen Auge. Nun nahm Gerrit einen wieder weg. Blieben drei Würfel liegen, und Graf Huckebein pickte frenetisch gegen die Glasschüssel.
    Gerrit deckte sie auf und der Rabe verschluckte die Nüsse.
    Ein Zauber begann zu wirken.
    »Ich will auch mal!«, schrie Laura.
    Gerrit überließ ihr generös Nüsse und Glas.
    »Und wenn ich jetzt nur zwei Nüsse nehme?«, fragte sie.
    »Geht auch«, antwortete Gerrit. »Nur bei mehr als vier irrt er sich manchmal.«
    Laura schlug die Hand in die Dose Nüsse und steckte so viele Nüsse unter die Glasschüssel, dass auch ich erst einmal gliedern musste: vier und drei, also sieben. Hätte Laura sich nicht selbst verzählt beim Würfel-Hinlegen und -Wegnehmen, wäre das Ergebnis trotzdem kaum weniger eindrücklich gewesen. Huckebein wurde bei acht Würfeln frenetisch und auch Laura war sehr zufrieden.
    Gerrit schaute seinen Vater an, verkniff es sich aber, Laura zu schulmeistern.
    »Ihr solltet auftreten damit«, flüsterte ich Hark zu. »Erstaunlich, wie eifrig der Rabe bei der Sache ist.«
    »Huckebein erweist uns die unbegreifliche Gnade, uns und unsere kleinen menschlichen Bedürfnisse ernst zu nehmen«, antwortete er.
    In diesem Augenblick flog das Tier auf, tat zwei mächtige Flügelschläge auf mich zu und landete … auf Harks Schulter. Er pflückte die Krallen des Raben aus seinem Pullover.
    Ich erlag der Magie und hielt im nächsten Moment ein pralles Bündel zuckender Lebendigkeit in meinen Händen. Die Vogelaugen blitzten mich an, der enorme Schnabel knispelte an meinem Handgelenk. Mir verschnürte es die Kehle. Wo nahm das Tier so viel unverschämtes Vertrauen her? Feuer in meinen Händen. Ich warf den Raben in die Luft, bevor mich die Gewissheit fällte, dass mein Leben nicht mehr so war wie vorher.
    Huckebein stieg in den Himmel, zog krächzend einen Kreis über Haus und Hof und verschwand.
     

31
     
    Janette war schon wieder daheim, als Laura und ich zurückkamen, nachdem die Kinder unter dem Nussbaum auf der Wiese noch ausgiebig Ermorden gespielt hatten. Sie hatten sich gegenseitig

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