Höhlenangst
bemerkte Hark, »Huckebein hat sich uns als seine Studienobjekte ausgesucht.«
Der Rabe hatte inzwischen die beiden alten Speichen entdeckt, pickte eine hoch, stellte sich mit beiden Krallenfußen darauf und bog mir nichts, dir nichts ein Ende zu einem Haken. Dann hüpfte er damit zur Ecke des Wohnhauses.
Hark ließ den Speichenschlüssel fallen und folgte ihm. Ich auch. An der Hausecke lag eine vergessene Weißglasflasche. Mittendrin hockte ein Käfer. Um dorthin zu gelangen, war Graf Huckebeins Schnabel zu kurz und zu dick. Deshalb stieß er die Speiche in den Flaschenhals und stocherte so lange, bis er den Käfer am Haken hatte. Dann zog er ihn heraus, pickte ihn auf und warf ihn sich mit einem Ruck in den Schlund.
»Und ich dachte, so etwas können nur Menschenaffen!«, sagte ich.
»Raben können sogar zählen. Ohne Witz. Das musst du dir von Gerrit zeigen lassen. Wenn man das nicht gesehen hat, glaubt man es nicht.«
Ich glaubte es nicht.
»Übrigens«, sagte Hark, als wir zum Fahrrad zurückgingen, »ich muss mich bei dir entschuldigen für die Szene gestern. Ich war so erschrocken, als das Seil riss. Und erklären kann ich es mir immer noch nicht. Es ist glatt durchgeschnitten. Aber natürlich hat dein Freund das nicht getan.«
»Schon gut.«
»Es war mein Fehler, dass ich die Seile nicht genauestens kontrolliert habe, ehe wir losfuhren.«
»Wann hast du sie zuletzt benutzt?«
Hark kniete bereits wieder beim Rad und blickte kurz auf. »Vermutlich vor drei Jahren beim Klettern mit Sibylle.«
»Könnte der Schnitt von damals stammen?«
»Das habe ich mich auch schon gefragt. Aber wer soll te ihn angebracht haben?«
Mir lag ein Name auf der Zunge, aber er nannte plötzlich einen anderen: »Mir fällt da höchstens Gerrit ein. Er hatte zum sechsten Geburtstag von mir ein Schweizer Messer bekommen. Tagelang hat er alles Mögliche damit durchgeschnitten und angeritzt, Stühle, Tisch, Henkel von Taschen, Stricke. Sibylle ist schier ausgerastet. Sie wollte, dass ich ihm das Messer wieder wegnehme. Ich habe versucht, ihm das zu erklären. Vielleicht hat er das Seil einfach deshalb nicht ganz durchgeschnitten, weil ich es dann gleich bemerkt und ihm das Messer weggenommen hätte. Kinder machen so was. Sie können die Folgen ihres Handelns nicht abschätzen.«
Eine gute Erklärung.
»Und Gerrit?«, fragte ich. »Hat der die Szene von gestern gut überstanden?«
Hark pumpte den Schlauch etwas auf. »Ich denke, schon. Ich habe lange mit ihm geredet. Eigentlich dachte ich immer, Gerrits Innenwelt sei einigermaßen in Ordnung, weil er nie Fragen stellt. Aber ich habe mich geirrt. Der hatte Angst … vor mir und um mich. Angst ist ziemlich ansteckend. Das ist gewissermaßen ein Naturgesetz. Es hilft der Sippe, sich zu retten, verstehst du? Die anderen müssen spüren, wenn einer Angst hat, damit sie nicht selbst in die Gefahr hineinlaufen.«
»Übrigens habe ich Winnies Gutachten gelesen.«
Hark stockte kurz beim Griff nach dem Rad, um den Schlauch draufzuziehen. »Und?«
Ich stockte auch. Wusste er nicht, dass sein Höhlenzwilling tot war? Hatte ihn niemand angerufen? War er so isoliert? Obgleich er der Vereinsvorsitzende war.
»Glaubst du denn, dass du wirklich am Petzl-Stop ei nen Fehler gemacht hast?«, fragte ich.
Hark wuchtete den Reifen über den Schlauch auf die Felge. Ihm gelang auf Anhieb, was mir überhaupt noch nie im Leben gelungen war.
»Nein«, sagte er dann und richtete sich auf. »Mag sein, dass Winnie die Lage nicht objektiv beurteilen konnte. Sicherlich fand er es akzeptabler, mir einen falschen Reflex zu unterstellen als Tötungsabsicht. Ich habe nie mit ihm darüber gesprochen. Und jetzt, Lisa, jetzt ist es zu spät. Denn Winnie ist gestern bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.«
»Oh!«
Hark missverstand mein Erstaunen. »Und wenn ich Eva richtig verstanden habe, dann ist er mit seinem verdammten Bundeswehrschrott in die Luft geflogen. Ich habe ihm immer gesagt, dass er die Finger davon lassen soll. Die haben ihm zu viel für die Fahrten gezahlt. Und schwarz. Das musste gefährlich sein. Aber er hat halt gerade gebaut.«
»Wer, die?«
»Irgendeine Firma in Münsingen. Winnie meinte, es sei besser, wenn ich es nicht wüsste. Aber eigentlich dachte ich, damit sei Schluss seit gut einem Jahr. Auf dem Truppenübungsplatz fällt ja kein Schrott mehr an.«
»Und wo hat er das Zeug hingefahren?«
Hark zuckte mit den Schultern. »Arme Eva!«
»Wann hast du Winnie zuletzt
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