Höhlenwelt-Saga 1 - Die Bruderschaft von Yoor
nicht... er ist ein großer Magier, nicht wahr? Was hätte ich ihm schon helfen können? In erster Linie habe ich es dir zu verdanken, dass ich noch lebe.«
Sie sah ihn an, als würde sie ihn zum ersten Mal richtig ansehen. Victor war ein großer, kräftiger Bursche, hatte ein kantiges Gesicht und braune Augen. Man hätte ihn fast einen hübschen Kerl nennen können, wenn er ein bisschen gepflegter ausgesehen hätte. Aber immerhin, er hatte eine harte Zeit hinter sich. Er trug einen einwöchigen Bart, seine Kleider waren schmutzig, und er roch nicht sehr gut. Aber er hatte freundliche warme Augen, und er hatte sie gerettet. Hätte er nicht den hartnäckigen Willen besessen, ihr wirklich helfen zu wollen, dann wäre sie jetzt tot.
In dankbarer Zuneigung fuhr sie ihm mit der Hand über die stoppelbärtige Wange. »Danke«, sagte sie noch mal.
»Ohne dich wäre es jetzt aus mit mir.«
Er lächelte sie freundlich an.
»Ich ... muss dich um einen weiteren Gefallen bitten.«
»Ja?«
»Du musst Munuel suchen. Er wollte mich irgendwo treffen, aber ich weiß nicht, wo.«
Er runzelte die Stirn. »Du weißt nicht, wo? Aber hat er es dir denn nicht gesagt?«
Sie setzte an, den Kopf zu schütteln, unterließ es aber im Ansatz schon wieder. Es tat zu weh. »Nein«, ächzte sie.
»Er hat mir in der Gildenschrift eine Nachricht aufgeschrieben. Das ist eine Geheimschrift der Gildenmagier.
Leider war sie zu schwer für mich. Ich konnte sie nicht richtig lesen.«
Er spitzte die Lippen. »Hm. Na ja, also ... wie soll ich es sagen ... hast du die Botschaft noch? Kann ich sie mir einmal anschauen?«
Sie sah ihn erstaunt an.
Er erkannte die stumme Frage in ihrem Blick, und es war ihm offensichtlich peinlich zu antworten. Dann sagte er: »Ich habe viel gelesen, weißt Du? Ich bin ja so eine Art Dichter, wenn du so willst. Wer viel schreibt, liest auch viel. Also habe ich ...«
»Das ist Gildenwissen!«, sagte sie ungläubig. »Und es gehört eine magische Iteration dazu, die Botschaften zu vervollständigen! Niemand, der nicht Magier und Mitglied der Gilde ist, könnte so etwas jemals lesen!«
Er verzog das Gesicht ein wenig und hob abwehrend die Hand, so als würde er ihre Aussage unerlaubterweise anzweifeln wollen. »Also, das stimmt vielleicht nicht ganz«, meinte er. »Eine Geheimschrift ist, was sie ist.
Wenn man ihre Muster und typischen Wendungen genau studiert, dann ...«
Leandra rappelte sich auf. Sie fühlte sich irgendwie alarmiert, als erdreiste sich ein unbefugter Frechling, in einen heiligen Tempelbezirk einzudringen. »Also hör mal...!«
Victor verzog das Gesicht, als hätte er längst erwartet, einmal mit dieser Sache irgendwo anzuecken. Er hob in abwehrend und gleichzeitig entschuldigender Geste die Hände. »Ich mache dir einen Vorschlag, einverstanden?
Ich werde dir ein andermal Rede und Antwort stehen. Das würde sicher eine längere Diskussion werden. Du bist jetzt einfach zu schwach, und ich schätze, es ist im Moment wichtiger, dass wir deinen Meister finden. Ich sagte ja nicht, dass ich die Botschaft ohne weiteres lesen kann, aber vielleicht finden wir gemeinsam heraus, was dein Meister geschrieben hat. Was hältst du davon?«
Leandra wollte in dem Moment aufbegehren, da er sie für zu schwach bezeichnete, aber im nächsten Augenblick erkannte sie, dass er Recht hatte. Wenn er ihr jetzt helfen konnte, Munuels Botschaft zu entschlüsseln, dann musste sie einwilligen, um ihren Meister zu finden. Es waren fast zwei Tage vergangen, und Munuel machte sich gewiss furchtbare Sorgen um sie.
Leandra seufzte, nickte dann und tastete nach ihrem Rucksack. Victor half ihr. Als die das Papier mit der Botschaft gefunden hatte, zeigte sie es ihm.
Er begann es mit ernster Miene zu studieren. Minutenlang starrte er auf die verschlungenen Zeichen und Symbole, dann fragte er, ob sie wisse, auf welche Iterationsstufe die Nachricht abziele. Mit verwunderten Blicken sagte sie es ihm.
»Soweit ich sehen kann, wollte Munuel dich, äh, vorgestern um die Mittagszeit bei einer Schmiede treffen ... hm ... offenbar am jenseitigen Ufer der Ishmar, an einem Waldrand. Der Name des Schmieds steht hier, aber ich kann ihn nicht lesen.«
Leandra grummelte. Unglaublich! Victor war ihr eine Erklärung schuldig.
Er studierte unsicher ihr Gesicht, als erwarte er ein Donnerwetter. Aber er sah, dass er Recht behalten würde. Sie war noch viel zu schwach, um sich auf eine längere Debatte einzulassen.
»Die Ishmar«, sagte er,
Weitere Kostenlose Bücher