Höhlenwelt-Saga 1 - Die Bruderschaft von Yoor
gebeugt hatte. Es war das Gesicht von Victor.
Ein neuer Schub von Gefühlen durchströmte sie. Victor? Was hatte das zu bedeuten? Wo war Munuel? War sie in Sicherheit - oder eine Gefangene? Die Kräfte drohten sie zu verlassen.
Es vergingen abermals viele Stunden, bis sie die Kraft aufbringen konnte, sich aufzusetzen.
Sie befand sich noch immer in der Scheune, in die sie entführt worden war. In einer Ecke stand Bushka und schnaubte leise, ansonsten war nur noch Victor da. Sonst niemand. Und er, an den sie so ziemlich als letzten gedacht hätte, hatte sie gerettet.
Seine Geschichte war ebenso unglaublich wie zugleich eine Fügung des Himmels. Er erzählte ihr alles. Nachdem sie ihn vor dem Henker gerettet hatten, ihn, den mittellosen, von aller Welt geächteten Herumtreiber, war er - gezeichnet von der Todeszelle - nicht mehr fähig gewesen, seinen Rettern gegenüber irgendwie auszudrücken, welche Dankbarkeit er empfand. Kaum hatte er sich jedoch von ihnen getrennt, hatte ihn das überwältigende Verlangen gepackt, irgendetwas für sie tun zu wollen - so hatte er sich jedenfalls ausgedrückt. Aber als er dann am Abend der Ankunft in Lakkamor zwei der Dunklen Reiter draußen vor der Stadt vorbeijagen sah, hatte sich eine Ahnung bei ihm eingestellt. Er wusste ja, dass sie diesen Reitern und den Untoten auf der Spur waren. Vielleicht könnte er sich irgendwie erkenntlich zeigen, wenn er ihnen unbemerkt folgte.
Dass sich die Dinge so entwickeln würden, hatte er nicht ahnen können.
Umso glücklicher war er jetzt, dass seine Eingebung Leandra das Leben gerettet hatte. Er war derjenige gewesen, den Leandra nachts beim Verlassen von Lakkamoor gehört hatte, und auch derjenige, der in den Waldweg abgebogen war, als sie in Gefangenschaft der beiden Soldaten die Straße heruntergekommen war.
Die beiden Soldaten waren tot. Den einen hatte Victor mit einer Heugabel umgebracht, der andere war das Opfer eines grotesken wie schicksalhaften Unfalls geworden. Er hatte sich gegen Victors Umklammerung in einem Moment gewehrt, da er ein Schwert am Hals sitzen hatte. Dabei hatte er sich eine so tiefe Schnittwunde zugezogen, dass er offenbar innerhalb von Minuten verblutet war. Als Victor aus seiner Bewusstlosigkeit aufwachte, war der Mann schon tot. Victor hatte die beiden Leichen in den Wald gezerrt und unter Blätterhaufen verscharrt. Die Pferde hatte er abgesattelt, tief in den Wald geführt und davongejagt.
Dann berichtete Victor von etlichen Reitern, die nachts draußen auf der Straße mit großer Eile vorbeigaloppiert waren. Dunkle Gestalten, die ihn an den schauerlichen Totenzug erinnert hatten. Er wusste nicht, ob sie auf der Suche nach einem von ihnen waren oder ob sie andere Ziele verfolgten.
»Wie lange ... bin ich schon hier?«, fragte sie mit kraftloser Stimme. »Ich meine, wie lange war ich bewusst-"
los?«
»Eine Nacht, einen Tag und wieder eine Nacht«, sagte Victor. »Es ist jetzt der zweite Tag nach dem Überfall.
Früher Vormittag.«
Leandra stöhnte. Wo mochte Munuel jetzt sein? Und fast zwei Tage Bewusstlosigkeit? Das war ein hoher Preis für eine misslungene Iteration! Sie fragte sich, ob sie jemals wieder Magie würde anwenden können. Ihr Kopf fühlte sich an, als würde er beim geringsten Versuch einer Iteration in tausend Stücke zerspringen. Sie war dankbar, dass Victor schon die ganze Zeit über so anschaulich sprach. Das ersparte ihr das Nachfragen, denn das war schmerzhaft und kostete Mühe.
»Jetzt sind wir quitt«, sagte sie leise.
»Quitt?«
»Ja.« Leandra kniff vor Schmerzen die Lider zusammen und wartete, bis der Anfall vorbei war. »Einmal habe ich dich gerettet«, sagte sie, »und nun hast du mich gerettet. Jetzt sind wir quitt.«
Er lachte leise auf. »Soll das heißen, dass ich jetzt gehen kann? Schlag dir das aus dem Kopf. Du bist ja mehr tot als lebendig.«
»So habe ich es nicht gemeint«, sagte sie matt und atmete ein paar Mal tief ein. »Ich hätte wohl besser... einfach danke sagen sollen.«
Er winkte ab. »Vergiss es. Wo ist dein Meister Munuel?«
»Munuel?« Sie stöhnte. »Ich weiß es nicht.«
»Ich habe ihn nachts aus Lakkamor fortreiten sehen«, sagte Victor.
»Du hast... wirklich? Ist das wahr? Wohin ist er geritten?«
»Soweit ich das beurteilen kann, Richtung Tulanbaar. Ich bin ihm nicht gefolgt.«
Sie sah ihn an, forschte in seinem Gesicht. »Warum bist du eigentlich nicht ihm gefolgt, sondern mir?«
Victor wirkte etwas verlegen. »Na ja. Ich weiß
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