Höhlenwelt-Saga 1 - Die Bruderschaft von Yoor
und sie lief immer weiter - geradewegs auf den riesigen Schatten zu. Längst war sie bis auf die Haut durchnässt.
Ohne wirklich zu wissen, was sie tat, stapfte sie mühsam Schritt um Schritt voran. Das Wasser umspülte ihre aufgeweichten Stiefel knöchelhoch, und ihre triefende Lederkleidung hing wie ein tonnenschweres Gewicht an ihr. Ein einziges Wort in ihrem Kopf trieb sie voran: Demut.
Während sie weiterlief, knöpfte sie sich mit klammen, kalten Fingern den Wams auf, schob ihn unter Anstrengung von den Schultern und ließ ihn fallen. Sie stapfte weiter. Ein Blick in die Höhe sagte ihr, dass sie ihrem Schicksal hilflos ausgeliefert war. Sie streifte das wollene Hemd über den Kopf und ließ es fallen. Der Schatten über ihr verharrte nur, und sie vermeinte in ihm Konturen erkennen zu können. So schwarz die Erscheinung auch war, sie schien nicht nur ein Schatten zu sein, sondern auch Tiefe zu besitzen. Sie erkannte die typische Form des geschwungenen Halses, den mächtigen Leib und die riesigen Beine mit Klauen, so groß, dass sie ein Haus hätten zermalmen können. Schon längst verspürte sie keine innere Bewegung mehr - es war wie der Gang zum Richtblock, gefühllos, taub, dem Schicksal ausgeliefert. Demut, echote es in ihrem Hirn. Mehr fiel ihr nicht mehr ein. Ihre Kleidungsstücke blieben auf ihrem Weg zurück, eines nach dem anderen, bis sie zuletzt die Schulterverschlüsse ihres Kettenhemdes öffnete, das kostbare Stück in einem Rutsch zu Boden glitt und sie völlig nackt war; schütz- und wehrlos und selbst ihrer Würde, ihres Stolzes und ihres Schamgefühls beraubt. Den eiskalten Regen spürte sie kaum noch auf ihrer Haut, und für einen Moment dachte sie, dass sie wahrscheinlich das Unwetter umbringen würde, wenn es der Drache nicht tat.
Dann hatte sie den Platz überquert und stieg einen weiten Weg von flachen Stufen hinauf, der auf das Zentrum der Stadt zuführte. Sie wusste nicht mehr, was sie vorantrieb, vielleicht nur noch die blanke Verzweiflung. Aber in den Resten der Gefühle, die sie noch tief in ihrem Inneren verspürte, war auch Trauer, Verbitterung und tiefe Niedergeschlagenheit darüber, was die Menschen einst hier in diesem Bor Akramoria getan hatten. Und ohne die ganze Geschichte zu kennen, ahnte sie, dass es nicht allein die Bruderschaft gewesen war, die hier unsägliches Unheil angerichtet hatte - nein, auch die Gildenmagier waren daran beteiligt gewesen. Und es hatte nicht nur die Menschen und die Drachen betroffen - nein, die ganze Welt wurde in den Abgrund gestoßen.
Nach einem endlos erscheinenden Weg hatte sie schließlich einen hoch gelegenen, weiteren Platz erreicht, der direkt unterhalb des riesigen, verfallenen Gebäudekomplexes lag. Über den Ruinen schwebte der Drache, und seine Größe war so überwältigend, dass Leandra ihn mit einem Blick gar nicht mehr erfassen konnte.
Ihre Wanderung zu diesem Punkt war in drückendem Schweigen verlaufen, nicht der Große Drache und auch kein Meakeiok, Munuel oder sonst jemand hatte ein vernehmbares Wort durch das Trivocum gesandt. Nun stand sie mitten auf dem riesigen Platz vor dem Palast, klein wie ein Floh, nackt und hilflos wie ein Baby. Über ihr schwebte der drohende Schatten des Drachen.
Sie fiel auf die Knie und beugte sich nieder, bis ihre Stirn das Wasser berührte, das über das Pflaster des Platzes strömte. Die Arme hatte sie vor der Brust verschränkt, und für diesen Moment war ihr Hirn so leer und hohl, dass sie keinen Gedanken und schon gar kein Wort zustande brachte.
Der riesige Schatten blickte drohend auf sie herab. Sie wusste, dass sie irgendetwas sagen sollte, aber es fielen ihr keine Worte ein, die dem Ausmaß der Schuld angemessen waren, die ihre Trauer und Verbitterung irgendwie ausdrücken konnten. Lange Zeit kniete sie da, und ihre Kräfte schwanden zusehends.
Bevor sie die Erschöpfung übermannte, kamen ein paar blasse Worte über ihre Lippen.
»Es tut mir Leid«, flüsterte sie.
Dann brach sie zusammen.
35 ♦ Nacht über den Tempeln
A ls Leandra die Augen aufschlug, war es dunkel. Voller Anspannung erwartete sie die Wahrnehmung von Schmerzen und Erschöpfung. Sie wagte nicht, sich zu bewegen; ihr Blick klebte auf einer rauen, steinernen Decke, die wie eine dunkle Drohung über ihr hing.
Schon vom ersten Augenblick des Erwachens an erinnerte sie sich, was geschehen war - die Landung in Bor Akramoria, das Unwetter, das Auftauchen des riesigen Ulfa und anschließend ihr verzweifelter Gang zu
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