Höhlenwelt-Saga 1 - Die Bruderschaft von Yoor
kann.«
Leandra entschloss sich überraschend, ihn zu begleiten. Plötzlich war er gar nicht mehr so unglücklich, fortgeschickt worden zu sein. Ohne miteinander zu reden, kletterten sie über die zerstörten Treppen und durch halb eingestürzte Gänge hinab, und Victor überlegte, ob er jetzt die Gelegenheit nutzen sollte, mit ihr zu reden.
Er erinnerte sich an die letzte Nacht und war sich mit einem Mal sicher, dass ein solches Erlebnis nicht so leicht wegzuwischen war. Es war einfach zu schön gewesen, um nicht wahr werden zu dürfen.
Dann erkannte er plötzlich, dass er die alte Weisheit zu seinen Gunsten verdreht hatte. Mit wachsender Beklemmung kletterte er weiter, bis sie schließlich den Platz vor dem Tempel erreicht hatten. Leandra kam zu ihm und hakte sich bei ihm unter. Das momentane Glücksgefühl verwandelte sich schon nach kurzer Zeit in einen unheilschwangeren Zwiespalt.
»Ich muss mit dir reden«, sagte sie.
Er erwiderte nichts, starrte nur auf den Boden vor sich, während sie langsam den Platz überquerten.
»Ich kann nicht mit dir zusammen sein«, sagte sie mit trauriger Stimme.
Ein furchtbarer Kloß entstand in seiner Kehle. »So?«, würgte er hervor.
Sie blickte zu ihm auf und studierte sein Gesicht. Er hatte das Gefühl, dass mit einem Schlag sein ganzes Leben seinen Sinn verloren hätte. Eine Träne rann seine Wange herab.
»Ach, Victor!«, hauchte Sie, blieb stehen, zog ihn an sich heran und umarmte ihn.
Er war unfähig, irgendetwas zu tun oder zu sagen, und bewegte sich nicht. Er wagte nicht, ihre Umarmung zu erwidern; hatte Angst, mit auch nur der winzigsten Bewegung irgendetwas zu zerdrücken oder zu zerstören.
Sie schien aber auf irgendetwas von ihm zu warten, denn sie fuhr nicht fort. Damit war klar, dass seine nächsten Worte die Sache auflösen würden, egal, was er sagte.
»Ich liebe dich«, brachte er mühselig hervor - denn wenn schon alles vorbei war, wollte er ihr wenigstens das noch gesagt haben.
Sie löste sich von ihm. »Irgendwie liebe ich dich auch«, sagte sie und blickte zu Boden. »Aber ...«
Victor wusste genau, was sie meinte, und er war plötzlich unendlich dankbar, dass sie das gesagt hatte. Es war ein liebevoller Dank für die wundervolle kurze Begegnung, die sie gehabt hatten, und es war ihm ein großer Trost. Dafür liebte er sie nur umso mehr, und er hatte das wohltuende Gefühl, dass sie alles wert war, was er ihr an Gefühlen entgegengebracht hatte. Einen Augenblick später kam ihm der Gedanke, dass er vielleicht doch noch einmal eine Chance haben könnte; irgendwann, vielleicht in hundert oder in tausend Jahren, und diese Chance wollte er sich unbedingt bewahren.
»Komm«, sagte er und zwang sich mit aller Macht, seine Gefühle zu beherrschen. »Die Magier da oben warten schon auf ihre Trommelstöcke!« Er zog sie am Unterarm mit sich, ließ sie aber gleich wieder los und marschierte zielstrebig auf einen abgestorbenen Busch zu, den er in der Nähe erspäht hatte. Kaum war er von ihr abgewandt, brach eine sekundenlange, heftige Tränenflut aus ihm hervor. Aber bis Leandra ihn wieder eingeholt hatte, war sie schon vorbei, und er wischte sich die Feuchtigkeit mit einem staubigen Handrücken aus dem Gesicht.
»Schau mal!«, rief sie munter und hüpfte auf einen Haufen totes Holz zu, das am Boden lag. Er rang sich ein Lächeln ab.
Sie bückte sich, hob ein paar passende Holzstücke auf und wandte sich ihm zu. Für Momente stand sie vor ihm, studierte seine tränenfeuchten Wangen und sein Gesicht, das ein mühevolles, aber tapferes Lächeln zeigte, und drückte ihm dann das Holz in die Arme. Sie wischte ihm entschlossen mit beiden Händen die Tränen aus dem Gesicht, küsste ihn dann kräftig auf den Mund und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.
Obwohl jetzt alles vorbei war, war sich Victor sicher, dass es auf der ganzen Welt keine wundervollere Frau geben konnte als Leandra.
Zehn Minuten später waren sie zurück bei ihren Gefährten.
Leandra war froh, dass sie die Sache mit Victor hinter sich gebracht hatte, und sie war auch irgendwie traurig.
Sie fragte sich, warum sie sich einer Beziehung mit ihm widersetzte. Victor war klug, gebildeter als die meisten anderen Männer, besaß Humor, Anstand und Höflichkeit und war gewiss ein sehr zärtlicher Liebhaber. Sie hätte nicht sagen können, dass ihr die Nacht mit ihm weniger Lust bereitet hätte als die Begegnung mit Hellami.
Dennoch gab es irgendetwas, das ihr verbot, mit ihm eine Bindung
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