Höhlenwelt-Saga 4 - Das magische Siegel
Er hielt es ihr hin. »Verzeih mir, dass ich spioniert
habe. Das war bei den Sachen, die man dir abgenommen hat. Es
war so interessant, dass ich nicht umhin kam, es mir anzusehen.
Wirklich, äußerst interessant.«
Leandra nahm es entgegen und wendete es. Auf der Vorderseite
befand sich ein außergewöhnlich lebensecht aussehendes Bild
einer Insel im Meer, in leuchtenden Farben und mit unglaublich
vielen Einzelheiten. Über der Insel spannte sich kein Felsenhimmel, nur endloses, tiefes Blau. Nun wusste Leandra, wohin Rasnor
mit ihr wollte. Ihr Herz begann dumpf zu pochen.
»Das andere jedoch«, sagte er, »war noch viel interessanter.«
Er holte aus der rechten Innentasche das kleine Büchlein, das
Victor in Hammagor gefunden und ihr gegeben hatte. Leandra
stieß ein Keuchen aus und riss es Rasnor aus der Hand – wie einen wichtigen, wertvollen Schatz, der nicht in seine Hände gehörte. Er ließ es geschehen, wehrte sich nicht und hob stattdessen
nur abwehrend die Hände.
»Das… das ist etwas ganz Besonderes!«, stieß sie hervor.
»Ich weiß, ich weiß. Wo hast du es gefunden? In Hammagor?«
Leandra hätte im Moment zwar keinen Grund gewusst, es ihm
zu verschweigen, aber sie wollte nicht den gleichen Fehler begehen wie er: unbedacht zu viele Informationen preiszugeben. »Ich
habe es von Victor.«
»Von Victor? Und woher hat er es?« Sie hob die Achseln. »Weiß
ich nicht. Frag ihn selbst.«
Rasnor seufzte. »Ist ja auch egal. Das was drinnen steht, ist
wichtig. Ich habe es übersetzt.« Sie machte große Augen. »Du?«
»Vor nicht allzu langer Zeit war ich Leiter der Skriptoren unter
Chast. Schon vergessen?« Leandra nickte. »Ja, natürlich. Victor
erzählte es mir. Es ist in Anglaan verfasst, nicht wahr? Der Alten
Sprache. Hast du es ganz übersetzt?«
»Zeile für Zeile, Wort für Wort. Nun ja, manche Wörter kannte
ich nicht, aber ich denke, ich habe den Inhalt verstanden.«
Nun packte die Aufregung Leandra vollends. Hochmeister Jockum hatte zwar auf ihrem Flug nach Hammagor einiges aus dem
Büchlein übersetzen können, aber längst nicht alles. »Und? Was
steht drin?«
Rasnor lehnte sich auf seinem Sitz zurück und verschränkte die
Arme vor der Brust. »Ich habe fast vier Tage damit verbracht, es
zu übersetzen.
Es war wahrhaftig nicht leicht.«
Sie stöhnte. »Ja doch, ich glaube es dir. Nun sag schon!«
Wieder seufzte er. Wenigstens schien er inzwischen verstanden
zu haben, dass sie sich von ihm nichts abpressen ließ. Er lehnte
sich nach vorn und stützte die Ellbogen auf die Knie. »Dieses
bunte Blatt – mit der Insel«, sagte er.
»Ja. Was ist damit?«
»Nun, so etwas muss es früher tatsächlich gegeben haben.« Er
deutete wieder in die Höhe. »Oben auf der Welt. Da haben die
Menschen früher gelebt.«
Ein Schauer fuhr ihren Rücken herab. »Es ist also wirklich
wahr?«, keuchte sie. »Wir stammen von der Oberfläche der
Welt?«
Er sah sie überrascht an. »Davon… weißt du?«
Sie schüttelte den Kopf, vollständig von der Faszination dieses
Gedankens ergriffen. In diesem Augenblick war es ihr egal, ob
Rasnor ihr Freund oder ihr Feind war. »Schon als junges Mädchen
habe ich mit Munuel darüber diskutiert. Und später mit anderen
Leuten. Viele Gelehrte haben sich damit beschäftigt, dass unsere
Geschichte nur fünftausend Jahre zurückreicht. Davor ist… nichts!
Es gab verschiedentlich Vermutungen, dass wir von… dort oben
stammen.«
Rasnor deutete auf das Büchlein in ihrer Hand.
»Nun, dieses Buch da wurde von jemandem geschrieben, der
oben war, verstehst du? Und der dann herunter kam!«
»Ja! Das sagte der Primas auch.«
»Es ist so etwas wie ein Tagebuch. Allerdings ist ihm ein Bericht
vorangestellt. Ein Bericht über das, was in der Zeit davor geschah. In den… Jahrhunderten davor. Soll ich es dir verraten?«
Sie war schon drauf und dran, ihm zu sagen, dass er dafür alles
von ihr haben könnte. Aber das hätte er womöglich sehr missverstanden. Ihr Herz pochte wild. »Ja natürlich!«, antwortete sie.
»Erzähl es mir!«
»Also schön«, sagte er. »Erinnerst du dich, als wir vor ein paar
Tagen über die Entstehung der Welt sprachen? Oder genauer gesagt: über die Entstehung der Höhlenwelt?«
Sie nickte zögernd. Diesmal fasste sie in Worte, was sie zuvor
nur gedacht hatte: »Das muss… Millionen von Jahren her sein,
nicht wahr?«
Er grinste leicht. »Millionen? Wo hast du diese Zahl her? Ich
dachte, nur wir Bücherwürmer lesen hin und wieder von so
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