Höhlenwelt-Saga 4 - Das magische Siegel
einem Mann,
von dem sie geliebt wurde, und vor allem: einem, der anwesend
war. Aber als sie erfahren hatte, dass Leandra zuvor mit einem
Drachen zu ihrem Heimatdorf aufgebrochen war, war auch ihr
letztes Fünkchen Hoffnung erloschen, dass heute irgendetwas so
sein würde, wie sie es sich gewünscht hätte. Victor wusste mit
Sicherheit ebenfalls von Leandras Aufbruch, und wenn er eine
Gefahr für sie sah, war er ihr ganz gewiss gefolgt. Alina rechnete
nicht einmal mehr damit, dass er überhaupt noch in der Stadt
war.
Das Hochzeitskleid war fertiggestellt worden, ein wunderschönes, zartrosa Seidenkleid mit Schärpe und einer langen Schleppe
in derselben Farbe. Ihr Haar war kunstvoll mit einem weißgoldenen Diadem und eingeflochtenen Perlen frisiert und hochgesteckt.
Der Kragenspiegel saß nun korrekt, sie hielt einen Brautstrauß
aus Maione-Blüten, und an den Füßen trug sie hoch geschnürte
Sandalen über seidenen Stümpfen. Es war mit Abstand das
Schönste und Feinste, was sie je getragen hatte; nur ihr selbst,
die sie in diesen Kleidern steckte, war alles andere als festlich
zumute. Sie hatte eher das Gefühl, als müsste sie sich nun vor
großem Publikum an den Schandpfahl binden lassen. Bislang hatte sie niemandem gesagt, dass sie Victor gefunden hatte, und
womöglich waren die meisten Leute noch immer davon überzeugt, dass auf das beiderseitige Ja-Wort vor dem Rat hin die
Hochzeit heute stattfinden würde. Aber das war nur ein dummer
Wunschtraum. Alina hoffte auf ein Wunder. Vielleicht stürzten
sich die wütenden Bürger ja auf die Ratsversammlung und hoben
sie anschließend doch noch auf den Thron, was allerdings nicht
sehr wahrscheinlich war. Außerdem war ihr momentanes Verlangen nach dem Thron eher gering.
Als zur Mittagsstunde die drei riesigen Cymbas im Großturm des
Palasts angeschlagen wurden und sich ihr tiefer, anschwellender
Ton über die Stadt ausbreitete, wusste sie, dass ihr ganz persönliches Drama nun seinen Lauf nehmen würde. Ihr wurde immer
dumpfer in der Magengegend. In weniger als einer Stunde würde
sie die meistverspottete Person im ganzen Land sein. Die Shaba,
die niemand haben wollte. Der Rat nicht, die Leute nicht, nicht
einmal der Mann, der ihr die Heirat versprochen hatte. Sie war
den Tränen nahe.
Aber der Hochzeit jetzt einfach fern zu bleiben, wo schon Victor
nicht kommen würde und auch Leandra nicht da war, das wäre in
den Augen der Leute ganz sicher feige und verwerflich gewesen.
Es hätte sie das letzte Fünkchen Respekt gekostet, das ihr vielleicht noch blieb. Jemand musste wenigstens vor die Menschen
treten und ihnen die Wahrheit sagen.
Sie nickte den Mädchen und Hilda zu, der treuen Seele, die sich
die ganzen Tage schon um Marie kümmerte, und setzte sich in
Bewegung. Inzwischen schien auch Hilda etwas zu ahnen, denn
ihre Miene spiegelte bei weitem nicht das, was nette alte Tanten
wie sie gewöhnlich empfanden, wenn ihre Schützlinge zur Trauung schritten. Alina trat aus ihrem Zimmer hinaus auf den Gang.
Draußen warteten Hochmeister Jockum, Jacko und Hellami – alle
drei in festlichen Kleidern, Doch auch sie zeigten ernste Mienen,
kaum weniger als sie, denn ihnen war bekannt, dass Victor noch
immer fehlte. Alina warf ihnen ein gespieltes zuversichtliches Lächeln zu. Immerhin war sie nicht ganz allein.
Die Cymbas klangen noch immer, als sie losmarschierten. Sie
verließen das dritte der unteren Stockwerke des Palasts, stiegen
über weite Treppenfluchten und durch menschengesäumte Säle
hinab in den Wappensaal. Überall standen Gardisten in Paradeuniform und bewachten ihren Weg, sie hielten aberhunderte von
Schaulustigen und Gästen zurück, die dem hohen Ereignis beiwohnen wollten. Alina sah zuversichtliche Gesichter wie auch
misstrauische. Niemand jedoch schien zu ahnen, welche Schmach
und Schande ihr bevorstand. Tapfer schritt sie voran, gefolgt von
ihren Freunden, einer Dienerschar und einem Trupp Gardisten.
Als sie in die Nähe des Wappensaals kamen, erschallte eine dröhnende Fanfare aus Tenorhörnern, dazu wurden weitere Cymbas
angeschlagen, überdeckt vom feinen, silbrigen Klingen zahlloser
Windglöckchen. Es war eine so beeindruckende Klangfülle, dass
Alina unwillkürlich stehen blieb. So etwas hatte sie noch nie gehört. Schmerzlich wurde ihr bewusst, von welcher Tragweite die
heutige Zeremonie war. All der Pomp und die Glorie hier im Palast
waren ihr fremd und ungewohnt. Als Ratsvorsitzender war Altmeister Ötzli der
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