Höhlenwelt-Saga 4 - Das magische Siegel
spöttisch ins Gesicht. »Mein eigenes Volk? Ha! Ich hab ein Leben lang nur in einem Keller gehockt
und bin geohrfeigt worden. Ich habe kein eigenes Volk!« Leandra
schüttelte fassungslos den Kopf. Er schien überzeugt zu sein,
dass man durch ein leidvolles Schicksal die Berechtigung zu jeder
beliebigen Gräueltat erwarb. Sie öffnete den Mund, aber bevor sie
etwas sagen konnte, deutete er nach vorn. »Da, sieh nur! Das ist
mein Volk! Bei den Drakken bin ich jemand!«
Ihr Flugschiff sank tiefer, und es blieb ihr erspart, diese absurde
Unterhaltung weiterführen zu müssen. Das Schiff legte sich in
eine Kurve und schoss unter der Flotte hindurch, die in etwa einer
halben Meile Höhe über der Stadt schwebte. Leandras Mut erreichte angesichts dieser Übermacht einen neuen Tiefpunkt. Sie
waren geschlagen, sie hatten verloren.
Cathryn hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt, hielt sich an
einer Querstange fest und starrte mit offenem Mund aus dem
Seitenfenster. Der Anblick war ebenso niederschmetternd wie
überwältigend. Mehrere Drakkenschiffe waren in der Stadt gelandet, sie standen auf Plätzen oder großen Kreuzungen. Auf dem
Marktplatz vor dem Palast lag ein spinnenbeiniges, metallenes
Ungetüm von einem Flugschiff. Von mehreren Häusern stiegen
Rauchwolken auf. Die Schäden in der Stadt waren, soweit Leandra es erkennen konnte, nicht so groß, wie sie befürchtet hatte.
Dafür aber waren die Drakken da – unzählige Drakken.
Als ihr Schiff sich anschickte, auf dem großen Platz zu landen,
sah sie das Palastportal und ihr stockte der Atem. Es war völlig
zerstört, wie von einer Riesenfaust eingedrückt. Dann sah sie die
Menschen. Sie wurden von bewaffneten Drakkentrupps aus dem
Palast geführt. Andere saßen in kleinen Gruppen auf dem Boden
des Marktplatzes, von weiteren Drakken bewacht. Etliche Tote
lagen am Boden, es musste ein kurzer, aber sehr heftiger Kampf
um den Palast stattgefunden haben. Als das kleine Schiff gelandet
war und sich die Rampe an der Unterseite geöffnet hatte, erhob
sich Rasnor aus seinem Sitz und stieß einen Laut der Befriedigung
aus. »Ha! Ist das nicht herrlich? Sie haben die ganze Stadt im
Handstreich genommen! Sieh dir das an!«
Er kam zu ihr nach hinten, zwischen weißen Aufbauten und harten, kantigen Sitzbänken hindurch, und kletterte über eine kleine
Leiter hinab auf die Schräge der geöffneten Rampe. Mit wenigen
Schritten hatte er das Pflaster des Platzes erreicht. Kaum draußen, warf er die Arme in die Luft. »Sieg!«, rief er. »Wir haben
gewonnen!«
Sie stieg ihm hinterher, zog Cathryn mit sich, und als sie ihn erreicht hatte, beugte sie sich zu ihm. »Du bist ein Stück Dreck!«,
sagte sie leise. »Du bist der schlimmste Verräter, den diese Welt
je gesehen hat. Gegen dich ist Chast ein Sonnenschein!«
Er warf ihr nur einen weiteren spöttischen Blick zu. Leandra
mahnte sich, nicht ihre Energie an ihn zu verschleudern, denn
ihre rechtschaffene Wut schien ihn überhaupt nicht zu berühren.
Rechts ragte das riesige Drakkenschiff auf, dahinter stand ein
weiteres, von der Bauart her ähnliches, wenn auch kleiner. Beim
vorderen Schiff war an der Unterseite ebenfalls eine lange, schräge Rampe ausgefahren, viel größer jedoch als die ihre, über die
Trupps von Drakken irgendwelche schwebenden sechseckigen
Kästen bugsierten. Überall standen Wachposten mit länglichen,
eckigen Waffen, die sie nach vorn gerichtet hielten. Links von
Leandra wurde in diesem Moment eine Gruppe entwaffneter Palastgardisten abgeführt. Leandras Herz pochte dumpf, als sie die
Gesichter der Männer nacheinander musterte. Ja, da war einer,
den sie schon mal gesehen hatte, ein Soldat der Palastgarde. Einem Impuls folgend, ließ sie Cathryn los und rannte die paar
Schritte hin zu den Männern. »Die Shaba!«, rief sie dem Mann zu.
»Alina! Ist ihr etwas passiert?« Im nächsten Augenblick sah sie
von rechts etwas heranfliegen. Sie erhielt einen Schlag gegen den
Rücken, schrie auf, stolperte und fiel hin. Als sie sich umdrehte
und sich aufrappeln wollte, standen vier Drakkensoldaten über
ihr, die Waffen auf sie gerichtet. Cathryn quietschte und kam zu
ihr gerannt. Augenblicke später hörte sie Rasnors Stimme.
»Lasst sie! Bei den Kräften, lasst sie in Ruhe!« Er war schneller
bei ihr als Cathryn, drängte sich durch die Drakkensoldaten und
half ihr hoch. Leandra ließ es geschehen, ihr Herz klopfte wild vor
Schreck und Angst. Gleich darauf war auch Cathryn bei
Weitere Kostenlose Bücher