Höhlenwelt-Saga 5 - Die Schwestern des Windes
die tief in den Felsen gemeißelten Runenzeichen erkennen, die den kleinen Tunnel umgaben. »Eine vergessene Kunst«, sagte er mit anerkennendem Kopfnicken. »Wir sollten uns im Orden mal wieder damit beschäftigen. Kaum zu glauben: Seit über zweitausend Jahren halten sie hier einen einfachen stygischen Energiefluss aufrecht.«
»Wenn Phenros noch mehr Rätsel verborgen hat, dürften wir auf weitere Runen stoßen«, meinte Marina. »Diese Kunst hat er wirklich beherrscht.« Jockum wandte sich um und sah nach Marina, die seit gestern Abend hier unten beschäftigt war. Vor ihr, auf einem glatten Stück Felswand, befand sich ein großes, kunstvoll gestaltetes Ölgemälde, das ebenfalls von Runenzeichen eingerahmt war. Phenros hatte auch hier alle Sorgfalt darauf verwendet, sein Vermächtnis dauerhaft zu sichern. Das Gemälde strahlte selbst nach dieser langen Zeit noch immer in kräftigen Farben; nicht einmal die Feuchtigkeit der Grotte hatte ihm etwas anhaben können. Jockum trat zu Marina, die an einer Staffelei stand, und betrachtete das Bild, das sie malte. »Du hast Talent, mein Kind«, sagte er anerkennend. »Der wievielte Teil ist das jetzt?«
»Ich weiß nicht genau. Aber es sind nur noch zwei übrig, dann bin ich fertig.«
»Und? Ist dir während des Abmalens eine Idee gekommen, worin die Bedeutung liegen könnte?«
»Vielleicht ist es so etwas wie ein Plan. Es gibt so viele kleine Einzelheiten, die man erst entdeckt, wenn man es Stück für Stück abmalt.« Sie ließ von ihrer Arbeit ab und trat zu der großen Felswand, auf der das Gemälde aufgetragen war. »Hier, Hochmeister, seht nur. Eine Stadt. Sie ist nicht groß, aber es könnte dennoch Savalgor sein. Vor zweitausend Jahren war es sicher nicht so riesig wie heute. Der Palast fehlt, aber es mag sein, dass es den damals noch gar nicht gab. Und hier… da ist eine große Wüste abgebildet, hier unten ein Gebirgszug. Das da konnte der Mogellsee sein und dies hier das Meer – der Akeanos. Es gibt Dörfer, Hügel, Wälder, Grasland und Flüsse, einfach alles. Natur und Welt eben.« Sie unterbrach sich und nickte. »Nur… so schön das Bild auch sein mag, es ergibt eigentlich keinen Sinn.«
»Keinen Sinn?«
»Nein. Ein Maler versucht doch etwas auszudrücken, nicht wahr? Aber das hier… das ist nur ein kunterbuntes Sammelsurium von Landschaften und Ansiedlungen. Schön gemalt, aber ohne Inhalt oder Aussage.«
»Es sei denn…«, begann Jockum vieldeutig. Marina lächelte und nickte. »Ja. Es sei denn, es ist zum Beispiel eine Landkarte.« Jockum trat einen Schritt zurück und musterte das Bild nachdenklich. Er schüttelte den Kopf. »Eine Landkarte kann es nicht sein.
Ich kenne keinen Flecken in Akrania, wo auch nur eine dieser Gegenden an eine andere grenzt, so wie es hier zu sehen ist. Hier… diese Steppenlandschaft… sie grenzt an einen riesigen Wald, hinter dem ein breiter Fluss liegt, dem ein Gebirge folgt…« Er schüttelte den Kopf. »Das passt nicht zueinander.« Marina seufzte.
»Darüber zerbrechen wir uns auch schon die ganze Zeit die Köpfe. Aber irgendetwas muss es bedeuten. Warum hätte sich Phenros sonst solche Mühe machen sollen, mit dieser Grotte, dem magischen Quell und allem?«
»Nun, wir werden sehen. Wenn du alles abgemalt hast, mein Kind, werden wir es im Ordenshaus genauer untersuchen. Dort haben wir dann auch unser Archiv zur Verfügung. Und jede Menge Brüder, die vor Neugierde platzen und alle noch ihr Sprüchlein dazu aufsagen wollen. Da werden wir der Sache doch sicher auf die Spur kommen, was?« Marina lächelte zuversichtlich und begab sich wieder zu ihrer Staffelei. Jockum ließ sich von Azrani in das steife Ölzeug helfen, das einer der Ordensbrüder von einem Hafenmeister ausgeborgt hatte. Als er fertig angekleidet war, stellte er sich mitten unter den Wasserstrahl, sodass er auf seine Mütze prasselte, grinste breit und winkte zum Abschied. Dann kämpfte er sich gegen den Wasserstrahl die kurze Leiter hinauf und verließ die Grotte.
***
Noch am selben Abend wurde Marina fertig. Sorgfältig verpackte sie die einzelnen Papierbögen in Ölzeug, band sie an die Schnur, die Azrani von oben durch den Spalt herunterhängen ließ, und zog sich dann ihre eigene Garnitur Ölzeug an. Sie löschte alle Lampen und stieg durch den prasselnden Wasserstrom nach oben. Als sie unter dem Wasserstrahl hervorkroch, war es bereits dunkel. Azrani empfing sie mit einem Tuch zum Abtrocknen; die Rolle mit den Papierbögen hatte sie
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