Höhlenwelt-Saga 6 - Die Mauer des Schweigens
mit der ganzen Oberfläche ihrer
Haut. Mit jedem Fingerbreit ihres Körpers konnte sie die riesige,
orangerote Sonne spüren, die seit Stunden am gleichen Fleck zu
stehen schien; sie fühlte die Gegenwart der drei Monde, glaubte
das Alter des Staubes zu schmecken, der sich auf ihren Lippen
absetzte, die träge Wärme der fast bewegungslosen Luft und das
grobe und doch abgeschmirgelte Gestein unter ihren Füßen. Ihr
Anzug aus Nichts, so glaubte sie, hielt das fern, was ihr hätte
schaden können, und ließ doch von allem ein wenig durch, sodass
sie einen klaren Eindruck von der Umgebung erhielt, in der sie
sich bewegte. Ihr persönlicher Schlüssel zu den Geheimnissen
dieser Welt – ihr kleiner Würfel aus den sechs Glaspyramiden –
schwebte nach wie vor als schwach leuchtendes Gebilde in ihrer
Nähe: mal links, mal rechts von ihr und manchmal direkt über
ihrem Kopf, jedoch immer in Griffweite. Das war sehr bequem; es
ersparte ihr, ihn zu tragen, zumal sie keine Tasche hatte, in die
sie ihn hätte stecken können. So konnte sie sich ganz und gar
darauf konzentrieren, ihre Umgebung zu erforschen. Es war eine
sehr alte Welt.
Eine Welt, in der vor langer Zeit einmal etwas Besonderes existiert haben musste, vielleicht eine alte Kultur, die ihr fremd war.
Aber wahrscheinlich änderte sich das noch – wenn sie Geduld
hatte und das, was um sie herum war, weiterhin aufmerksam und
mit wachen Sinnen studierte. Etwas oder jemand hatte sie hierher geführt, und eines wusste sie ganz sicher, auch wenn sie im
Augenblick sonst nicht viel verstand: Das Ganze hatte einen Sinn.
Und den wollte sie ergründen. Die Zeit dazu würde sie sich nehmen. Was den Augenblick anging, so fühlte sie sich stolz… und
auf geheimnisvolle Weise sogar schön.
Während des letzten Jahres hatte Marina ihr geduldig beigebracht, dass sie nicht hässlich war, und Azrani hatte dabei gelernt,
dass man eigentlich nur von innen heraus hässlich sein konnte. Je
hässlicher man sich fühlte, desto mehr war man es auch. Jetzt
jedoch spürte sie, dass eine große Aufgabe vor ihr lag; jetzt war
sie ein wenig wie Leandra, die sie immer so sehr bewundert hatte. Leandra war irgendwo dort draußen bei den Sternen und erforschte wichtige Dinge, um sie mit nach Hause zu bringen – auf
dass sie daraus lernten, ob und was ihnen drohte und wie sie sich
dagegen wehren konnten. Leandra war stolz, schön und klug.
Azrani hatte oft genug miterlebt, wie sie sich mit ihrer enormen
Ausstrahlung gegen alle Widrigkeiten durchgesetzt hatte.
Was nun mit ihr selbst geschah, war etwas Ähnliches. Alles deutete daraufhin, dass hier ein großes Geheimnis auf sie wartete.
Azrani fühlte sich gut in der Gewissheit, einen wichtigen Beitrag
auf dem Weg, den die Schwestern des Windes nun gingen, leisten
zu können. Sie war stolz auf sich, spürte, dass eine wichtige Erkenntnis ihrer harrte, und eine innere Stimme flüsterte ihr zu,
dass sie ihre Aufgabe meistern würde, wenn sie nur den Mut hatte, nicht das kleine, hässliche Mädchen von früher zu sein, sondern so klug und selbstbewusst wie Leandra – wie jede ihrer
Schwestern. Ja, sie würde sich hier umsehen, ehe sie den Versuch unternahm, nach Hause zurückzukehren. Wahrscheinlich
machten sich Marina und Ullrik schreckliche Sorgen, aber womöglich bot sich jetzt die einzige Gelegenheit, diesen Ort zu erkunden, um ihm sein Geheimnis zu entreißen. Nachdem Azrani das
Hochplateau eingehend erforscht hatte, war sie einen Geröllhang
hinabgestiegen und hatte schließlich eines der Täler erreicht. Sich
in ihrer Körperhülle zu bewegen war leicht und angenehm; je
ausladender ihre Schritte wurden, desto größer wurde eine zusätzliche Kraft, die sie noch schneller voranbrachte. Das Laufen
ermüdete sie nicht im Mindesten, und ihr leuchtender Würfel begleitete sie zuverlässig an jeden Ort. Unten im Tal, wo es dunkler
war als auf dem Plateau, spendete er ihr sogar Licht. Bald war sie
glücklich und begeistert über ihre beiden Begleiter; die Körperhülle und der Würfel waren einfach fabelhaft.
Woher stammten diese Dinge nur? Waren sie am Ende eine Magie? Sie stellten wohl den nützlichsten Besitz dar, den sie jemals
ihr Eigen genannt hatte.
Mit ihrer Hilfe erforschte sie Seitentäler und entdeckte eine ganze Reihe von rätselhaften Dingen. Durch jedes der Täler führte
eine Straße, fast unsichtbar, unter rotem Staub und Sand versteckt. Eine Weile war sie auf einer solchen Straße entlanggelaufen und
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