Hoelle auf Zeit
»Holen Sie Mrs. Talbots Mantel, Charles. Ich glaube, sie wird gehen wollen.«
Charles entfernte sich, und Sarah wiederholte: »Was ist denn bloß los, Dan?«
Er hatte einen dicken Umschlag neben sich liegen, wie sie feststellte, als er ihre beiden Hände ergriff. »Sarah – Eric ist tot.«
»Tot? Eric?« Sie hatte das Gefühl zu ertrinken – in Zeitlupe. »Das ist doch Unsinn. Wer sagt das?«
»Tony Villiers hat vergebens versucht, Sie zu erreichen, und dann mich angerufen.« Charles brachte ihren Mantel und setzte sich ans Steuer. »Fahren Sie einfach los«, forderte ihn Morgan auf.
»Wohin, Mr. Morgan?«
»Egal wohin, aber fahren Sie endlich, ich flehe Sie an«, drängte Morgan.
Der Wagen setzte sich in Bewegung. »Es kann nicht wahr sein. Das gibt’s doch nicht«, sagte Sarah.
»Hier ist alles drin, Sarah.« Morgan nahm den Umschlag. »Villiers hat das Ganze mit Telex ans Büro durchgegeben. Ich bin hingefahren und hab’s abgeholt.«
Sie starrte blicklos auf den Umschlag. »Was ist da drin?« fragte sie mit erstickter Stimme.
»Ärztliche Befunde, gerichtsmedizinische Untersuchungser gebnisse und Ähnliches. Es sieht gar nicht gut aus, Sarah. Im Gegenteil. Schlimmer könnte es kaum sein. Sie heben sich das besser für später auf, wenn Sie etwas ruhiger geworden sind.«
»Nein.« Sie sprach leise, mit einem gefährlichen Unterton. »Jetzt. Ich will das jetzt sehen.«
Sie nahm ihm den Umschlag ab, hatte ihn aufgemacht und die Innenbeleuchtung eingeschaltet, bevor er sie daran hindern konnte. Ihr Gesicht war verzerrt, der Blick leer. Als sie fertig war, saß sie reglos da, unnatürlich ruhig.
»Halten Sie an, Charles«, befahl sie.
»Mrs. Talbot?«
»Sie sollten anhalten, verdammt noch mal!«
Er steuerte den Wagen an den Randstein, sie riß die Tür auf und raste durch den Regen zum nächsten Durchgang, ehe sie sich’s versahen. Die beiden liefen hinterher und fanden sie neben überquellenden Mülltonnen an die Wand gelehnt, von krampfartigem, heftigem Erbrechen geschüttelt. Endlich hörten die Anfälle auf, und sie wandte sich ihnen zu.
Morgan hielt ihr sein Taschentuch hin. »Wir bringen Sie jetzt nach Hause, Sarah.«
»Ja«, entgegnete sie ruhig. »Ich brauche meinen Paß.«
»Den Paß?« wiederholte er ungläubig. »Das einzige, was Sie jetzt brauchen, sind die richtigen Tabletten und Ihr Bett.«
»Nein, Dan. Ich brauche ein Flugzeug. British Airways, Pa
nAm, TWA, die Linie spielt keine Rolle, solange die Maschine nach London fliegt und noch heute nacht startet.«
»Sarah!« Er wollte sie abermals beschwören.
»Nein, Dan, keine Diskussionen. Bringen Sie mich bitte nur nach Hause, ich hab viel zu erledigen.« Sie drehte sich um, ging durch den Regen zurück zum Wagen und stieg ein.
4
Sie hätte auf die Concorde der British Airways warten können, die schnellste Passagiermaschine der Welt. Damit wäre sie zwar in dreieinviertel Stunden in London gewesen, aber dann hätte sie wiederum bis zum nächsten Morgen warten müssen. Zufällig gab es bei PanAm einen verspäteten Flug nach Lon don; die Maschine, eine Boeing 747, startete kurz nach Mitter nacht, und die nahm sie.
Der wahre Grund war, daß sie Zeit zum Nachdenken brauch te. Dan Morgan war unter Protest am Kennedy Airport zurück geblieben. Er wollte sie unbedingt begleiten, aber das hatte sie strikt abgelehnt. Natürlich gab es ein paar Dinge, die er über nehmen konnte. Die Gesellschafter in London benachrichtigen. Einen Wagen mit Fahrer auftreiben und den Verwalter des Hauses in der Lord North Street anrufen, des firmeneigenen Wohnsitzes, der ihnen allen bei Besuchen in London zur Ver fügung stand. Eine gute Adresse, wie Edward ihr einmal bestä tigt hatte. Sehr günstige Lage, ein Katzensprung zum Parla ment und zur Downing Street.
Edward, dachte sie. Zuerst Edward, gefallen in diesem idioti schen Operettenkrieg. Ein großartiger Mann, sinnlos dahinge opfert. Und nun Eric. Sie starrte durch das Fenster hinunter auf die Lichter von New York, als die Maschine Kurs auf den Atlantik nahm, und der Schmerz wurde unerträglich. Sie schloß die Augen und spürte eine Hand auf ihrer Schulter.
Die blonde Stewardeß, die sie an Bord empfangen hatte, lä chelte ihr zu. »Darf ich Ihnen jetzt einen Drink anbieten, Mrs. Talbot?«
Sarah starrte ausdruckslos nach oben, brachte zunächst kein Wort heraus. Ihr
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