Hoelle auf Zeit
einigermaßen festen Grund. Nur wenn sie aus dem Ried kam, stand sie knietief im Wasser.
Sie drehte sich um, sah, mit welcher Geschwindigkeit die Flut den Sumpf überspülte, erkannte ihre prekäre Lage und rannte los, so schnell sie konnte. Sie mußte an Jock denken, an seine Worte über Notfälle. Weit und breit niemand, auf den man sich verlassen konnte. Nur man selbst. Sie durfte nicht in Panik geraten, das wäre reine Zeitverschwendung. Nur immer in Bewegung bleiben, versuchen, sich an den unter Wasser gerade noch erkennbaren Deichkämmen zu orientieren.
Sie war mittlerweile fast am Hauptdamm angelangt, da be
gann es zu regnen, ein riesiger grauer Vorhang, der die Sicht fast auf Null reduzierte und sie einschloß. Oben schien sich etwas zu bewegen, ein Phantom, eine Sinnestäuschung, sie konnte es nicht mit Sicherheit sagen, und dann ging sie unter, würgte, kämpfte um ihr Leben.
Etwas fiel ihr ins Gesicht, der Ärmel von einem Parka, sie ergriff ihn, strampelte, blickte hoch und sah einen Mann, der sich über den Deichrand beugte, mit leichenblassem Gesicht, in dem die Narbe deutlich hervortrat.
»Braves Mädchen, festhalten, ja nicht loslassen, Sarah!«
Sie mühte sich ab, ging abermals unter, spürte, wie die Strö
mung an ihren Füßen riß, und dann hatte sie den Ärmel sicher gepackt und hielt ihn fest umklammert, während er sie langsam und vorsichtig auf den Damm heraufzog.
Sie drehte sich um, sah zu ihm hoch, und da erinnerte sie sich. »Ich kenne Sie doch. Sie sind der Mann aus der Unter grundbahn.«
»Hervorragend beobachtet.« Jago rollte seinen Parka zu sammen.
Und dann erbrach sie sich vehement, auf Hände und Knie gestützt, das Salzwasser drehte ihr den Magen um. Als sie endlich aufhörte, war sie allein, nur das Schilf, das im Wind rauschte, der Regen, der jetzt etwas nachgelassen hatte, die Dunkelheit, die hereinbrach.
Sie setzte sich in Bewegung, hielt im Zwielicht nach ihrem Retter Ausschau und hörte eine Stimme rufen: »Sarah?«
Peggy war als erste bei ihr und sprang aufgeregt schnüffelnd an ihr hoch. Egan und Jock tauchten Sekunden später auf.
»Sind Sie in Ordnung?« erkundigte sich Egan. »Als Jock aufwachte und merkte, daß Sie weg waren, hat er durchgedreht. Die Gezeiten hier sind berüchtigt. Sie machen das Sumpfland zur Todesfalle.«
Jock zog seine Jacke aus und legte sie ihr um die Schultern. »Meine Güte, Mädchen, Sie sind ja patschnaß. Was ist denn passiert?«
»Die Flut hat mich erwischt, ich bin beinahe ertrunken, und dann ist ein Mann auf dem Damm aufgetaucht wie ein Geist. Der hat mich rausgeholt.« Sie rang nach Luft, zitterte vor Kälte. »Er hat mir das Leben gerettet. Dann wurde mir schlecht, und als ich wieder hochsah, war er verschwunden.«
»Das macht doch keinen Sinn«, meinte Egan.
»Es klingt noch absurder, wenn ich Ihnen sage, daß es der
selbe Mann war, der mich vorletzte Nacht in der Untergrund bahn gerettet hat.«
Egan wandte sich an Jock: »Tony Villiers. Der und kein an
derer.«
»Das sehe ich auch so.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Sarah.
»Der Mann ist jetzt zweimal aufgetaucht. Das kann nur einen Grund haben – er ist Ihnen gefolgt, was wiederum heißt, daß Villiers einen von seinen Agenten in Group Four damit beauf tragt hat.«
»Der Teufel soll ihn holen«, zischte Sarah.
»Immer mit der Ruhe, Mädchen, ich kenne Colonel Villiers«, besänftigte Jock sie. »Hab jahrelang unter ihm gedient. Ein nobler Mensch. Alles, was er tut, geschieht aus Sorge um Sie.«
Auf dem Rückweg meinte Egan: »Zugegeben, möglicherwei
se hat der Colonel überhaupt nichts damit zu schaffen. Wahr scheinlich war es Ferguson, dieser alte Halunke. Ist ja im Grunde auch belanglos. Ich kriege schon raus, was da läuft. Ich werde sogar herausfinden, wer Ihr geheimnisvoller Freund und Wohltäter ist. Schließlich haben Sie’s ihm zu verdanken, daß Sie zweimal mit heiler Haut davongekommen sind.«
»Ja, schon gut, aber jetzt möchte ich weiter nichts als ein schönes heißes Bad«, erklärte Sarah. »Also bringen Sie mich bitte auf dem schnellsten Weg ans Ziel.«
Nach dem Abendessen gingen sie in den alten Weinkeller hinunter, den Jock zum Schießstand umfunktioniert hatte. Auf einem Zeichentisch lagen mehrere Schußwaffen, Ohrenschüt zer und Ladestreifen. Die Zielscheiben, Pappkameraden in Uniform, standen am anderen Ende vor einem Wall aus
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