Höllenengel
Hotelgast
auffand, und ohne zu zögern rief er die Polizei an. Zwei junge
Männer, die über den Sommer vertretungsweise im Einsatz
waren, wurden an den Ort des Geschehens geschickt mit der
Anordnung, die Leiche nicht zu berühren, bevor der
Rechtsmediziner eingetroffen war. Also tranken sie in einer kleinen
Ecke der Küche bei Nonni Kaffee, während sie auf Sveinn
warteten, der wegen Þórhildurs Abwesenheit
Bereitschaft hatte.
Als Sveinn zum Tatort kam, gelangte er schnell zum selben Ergebnis
wie Nonni, nämlich dass es sich um einen Selbstmord handele.
Die starke Alkoholfahne des Leichnams wies darauf hin, dass der
Mann betrunken gewesen war, was eine Erklärung dafür sein
konnte, wie er dieses unbequeme Erhängen ertragen haben
konnte, ohne aufzustehen und sich eine geeignetere Örtlichkeit
zu suchen. Nichts im Raum gab Anlass zu der Annahme, dass sich
Handgreiflichkeiten ereignet hatten. Das einzig Ungewöhnliche
war, dass der Mann keine Papiere bei sich trug und niemand dieses
Zimmer für diese Nacht gebucht hatte.
Mit einem scharfen Messer schnitt Sveinn den Gürtel so nahe
wie möglich an der Türklinke entzwei und beließ
jenen Teil, der sich in den Hals eingegraben hatte, an der Leiche.
Es gab keinen Grund, den Gürtel vom Hals zu lösen, denn
der Mann war offenbar seit geraumer Zeit tot. Er war bereits kalt
und die Totenstarre eingetreten.
Sveinn vermutete, dass der Mann vor ungefähr zwölf
Stunden gestorben war. Er hatte nicht viel Zeit für weitere
Überlegungen an Ort und Stelle, da ihn die Nachricht
erreichte, es habe höchste Priorität, dass er zu einem
bestimmten Sommerhaus in Grafningur führe und alles
mitbrächte, was man für die Untersuchung eines Mordes am
Tatort bräuchte.
Sveinn gab daher sein Fazit zu Protokoll, dass es sich um
Selbstmord handele, und übergab die Leiche den beiden
Urlaubsvertretungen, die dann einen Krankenwagen
verständigten, um den Leichnam ins Leichenschauhaus zu
transportieren.
Trotz der Arbeitslast am Vortag und den drei Obduktionen an diesem
Tag freute sich Sveinn darauf, die Bekanntschaft mit dem Mann
aufleben zu lassen, den er in so großer Hast im
Gästehaus hatte zurücklassen müssen.
Die Methode, die der Mann gewählt hatte, war eher
ungewöhnlich, und in seinem Beruf begrüßte Sveinn
alles mit offenen Armen, was ungewöhnlich war.
Jetzt lag der erhängte Mann auf dem Sektionstisch. Die
Kleidung war entfernt worden, die Totenstarre
größtenteils gewichen und die Leiche lag auf dem
Rücken. Der Gürtel war noch immer fest um den Hals
geschlungen, das Gesicht wies von Sveinn und der Tür des
Sektionssaals weg.
Als Þórhildur in die Tür trat, blickte sie an
Sveinn vorbei in Richtung des Leichnams. Ihr Blick blieb gleich an
dem Gürtel hängen. Sie erschrak, starrte ihn fassungslos
an und ging dann mit unsicheren Schritten zum Sektionstisch. Sie
erkannte die Gürtelschnalle, die unterhalb des linken Ohrs der
Leiche ruhte. Im Frühling, am ersten Mai, hatte sie ihrem Sohn
diesen Gürtel zum Geburtstag geschenkt. Die Schnalle war aus
poliertem Stahl und in ihrer Mitte war der Buchstabe M
ausgeschnitten. Sein Buchstabe. Magnús war ein Maikind, er
war ihr im Frühling des Lebens geboren worden, einem
Frühling, den sie selbst zu einem kalten Herbst gemacht
hatte.
Sie hielt am Sektionstisch inne und beugte sich über den
Leichnam, um sein Gesicht zu sehen. Der Ausdruck des Toten war
entstellt von der Qual. Die Zunge, die fast durchgebissen war, hing
aus dem Mund. An der linken Augenbraue war ein blutiger Schnitt und
an der Schläfe ein blauer Fleck.
Einen kurzen Moment wirkte es auf sie wie ein schlimmer Traum, ein
Albtraum, und innerhalb kurzer Zeit würde sie aufwachen
aber sie wusste es besser. Die Wirklichkeit ist derjenige Traum,
dem man nicht entkommt, bis der Tod seine schwarzen Flügel
über Freude und Sorgen breitet. Endgültig. Für
immer. In alle Ewigkeit. Keine Sorgen mehr. Nie wieder
Freude.
Mit unsicherer Hand strich sie das Haar von der Stirn des Leichnams
und schrak auf, als etwas brennend Heißes auf ihren
Handrücken fiel. Es war eine Träne. Sie weinte, ohne auch
nur einen Ton von sich zu geben, und die Tränen rannen von
ihrem Handrücken auf die geschlossenen Augenlider ihres Jungen
und seine Wangen herab. So weinten Mutter und Sohn gemeinsam
über die tödliche Finsternis, die ihr Leben entzweit
hatte, um es erneut im Tode zu vereinen.
Achtzehn
Sveinn stand etwas abseits und rührte sich nicht. Ihm war
klargeworden, dass
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