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Hoellenfeuer

Hoellenfeuer

Titel: Hoellenfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Conrad
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menschlicher Umriss, der sofort verschwand, wenn sie ihn direkt ansah. Nur wenn sie aus dem Augenwinkel auf die Stelle blickte und sie nicht direkt anvisierte, erkannte sie dort die Silhouette einer Gestalt, die sich hin und wieder ein wenig zu bewegen schien. Sie war klein, kaum größer als ein Kind von vielleicht zehn oder zwölf Jahren. Aber Eleanor zweifelte jetzt nicht länger daran, dass dort jemand stand. Ein Wesen, das offenbar nur halb von dieser Welt war und sich dem menschlichen Auge und der Wahrnehmung beständig entzog.
    „Wer bist du?“, fragte Eleanor flüsternd.
    Eine Weile war nichts zu hören, außer dem gleichmäßigen Ticken des kleinen Reiseweckers neben dem Bett. Dann antwortete eine ebenso leise Stimme, die aus weiter Ferne kam: „Kannst du mich sehen?“
    Eleanor zog sich die Bettdecke unwillkürlich ein wenig höher und nickte in Richtung auf die Tür. „Ja, ich kann dich sehen. Zumindest ein bisschen.“
    Wieder kam einige Augenblicke lang keine Reaktion. Dann erklang die Stimme wieder. „Dann ist es wahr, was erzählt wird. Das Ende der Zeit steht bevor. Der Tag der Erlösung.“
    „Wer bist du?“, fragte Eleanor, ohne auf die merkwürdige Antwort einzugehen. Sie war sich mittlerweile sicher, dass die Stimme einem jungen Mädchen gehören musste, obwohl sie leise, verzerrt und wie durch ein hohles Rohr gesprochen klang.
    „Ich bin Elizabeth. Meine Mutter nannte mich Lizzy“, war die merkwürdige Stimme zu hören. „Bringst du mir den Frieden?“
    Die letzten Worte hatten flehend, fast bettelnd geklungen.
    „Ich… ich weiß nicht… wovon du sprichst“, stotterte Eleanor unsicher. „Was meinst du damit?“
    „Wie ist dein Name?“, erklang die Stimme des Mädchens jedoch, ohne dass sie auf Eleanors Frage eingegangen wäre.
    „Ich bin Eleanor.“
    „Das klingt wunderschön“, sagte Elizabeth mit einem schwärmerischen Ton in der Stimme.
    Eleanor war irritiert. Noch nie hatte ein anderes Mädchen ihren Namen als schön bezeichnet. Im Gegenteil – bislang hatten die Mädchen in ihrem Umfeld ihren Namen als Spottbegriff benutzt und ihn zu einem Synonym für den Schul-Underdog gemacht.
    Und noch etwas fiel ihr jetzt auf. Sie hatte Angst. Ihr Puls raste, kleine Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn und ihr Atem ging flach und stoßweise. Selbst in Samaels Gegenwart hatte sie nicht solche Furcht verspürt, wie jetzt im Angesicht der unheimlichen Erscheinung, die sich Elizabeth nannte.
    Elizabeth schien das gespürt zu haben, denn die Silhouette ihres Körpers machte eine langsame Bewegung nach rechts in den entfernteren Teil des Raumes und brachte so etwas mehr Abstand zwischen sich und Eleanor.
    „Bitte. Hab keine Angst vor mir “, erklang ihre ferne, verzerrte Stimme erneut. „Ich habe so lange auf dich gewartet. Und mit mir so viele andere Seelen.“
    „Was willst du von mir?“, flüsterte Eleanor.
    „Wir alle hoffen, dass du den Stein ins Rollen bringst und uns aus dieser Existenz befreit“, erwiderte die gesichtslose Gestalt.
    „Was bist du?“, fragte Eleanor nach einer Weile, obwohl ihre Angst von Minute zu Minute zunahm.
    „Ich bin das, was von mir übrig geblieben ist “, erklang die Stimme traurig. „Wenn du mich sehen willst, dann geh in das westliche Treppenhaus, ins zweite Obergeschoss. Dort wirst du eine hölzerne Wandverkleidung sehen, welche mit geschnitzten Tieren versehen ist. Auf einer der Vertäfelungen befindet sich eine kleine Eule, deren Flügel abgebrochen ist. Diese Vertäfelung kannst du öffnen. Dort bin ich.“
    Die letzten Worte hatte die Erscheinung bereits geschluchzt. Jetzt fing sie offen an zu weinen, während ihre Stimme schnell schwächer wurde. Auch der geisterhafte Umriss verflüchtigte sich und nach einigen Augenblicken konnte Eleanor ihn nicht mehr wahrnehmen. Sie war sich sicher, dass sie nun allein war.
    Völlig schockiert und aufgelöst saß sie aufrecht im Bett. Ihr Puls schien sich nicht verlangsamen zu wollen und auch ihre Gänsehaut wollte sich nicht beruhigen. Die weinende Erscheinung namens Elizabeth hatte sie zutiefst mitgenommen und den Rest der Nacht fand sie keinen Schlaf mehr. Raphael schien vergessen, denn noch nie zuvor hatte Eleanor etwas erlebt, dass sie so sehr verängstigt hatte wie ihre nächtliche Begegnung und noch nie zuvor hatte etwas sie so berührt, wie das Weinen des unheimlichen Mädchens, das sich Elizabeth nannte.
     
    Es war noch früh, als Eleanor ihr Zimmer verließ. Sie sah ungekämmt und

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