Höllenflut
dafür aber mehr
Durchschlagkraft. Er konnte sein Glück also insgesamt
vierundzwanzig Mal versuchen. Und Glück brauchte er auf
jeden Fall. Er hatte zwar genügend Munition für ein mittleres
Massaker, aber ob er damit gegen schweren Stahl etwas
ausrichten konnte, war mehr als fraglich. Denn Pitt hatte vor, auf
die Dieselmotoren und Generatoren zu schießen und sie nach
Möglichkeit so schwer zu beschädigen, daß die Lok nicht
abfahren konnte.
Pitt seufzte, kniete sich auf, nahm in jede Hand einen
Revolver, zielte auf die seitlichen Kühlschlitze der Lokomotive
und eröffnete das Feuer.
37
Julia hatte keine Ahnung, wie lange sie bewußtlos gewesen
war. Das letzte, woran sie sich erinnern konnte, war das Gesicht
der Frau, die ihr die Bluse vom Leib gerissen hatte - eine sehr
schöne Frau, die ein rotes Futteralkleid aus Chinaseide mit
hohen Schlitzen an beiden Seiten getragen hatte. Als die
Benommenheit nachließ, spürte sie, daß ihr ganzer Körper
glühte und brannte. Außerdem stellte sie fest, daß man sie mit
Händen, Füßen und um die Taille an das Torgitter hinter ihr
gekettet hatte und dabei die Kette so straff angezogen hatte, daß
ihre Zehenspitzen kaum den Boden berührten und ihre Arme
brutal nach hinten gezogen wurden. Sie konnte sich keinen
Millimeter bewegen.
Die kühle, feuchte Luft auf ihrer bloßen Haut linderte die
Glut, die in ihren Adern brannte. Allmählich wurde ihr bewußt,
daß sie so gut wie nackt war, nur noch BH und Slip trug.
Die Frau, offenbar eine Eurasierin, musterte Julia von einem
in der Nähe stehenden Stuhl aus. Sie saß mit untergeschlagenen
Beinen da und warf ihr ein katzenartiges Lächeln zu, bei dem es
Julia eiskalt überlief. Sie hatte glänzende schwarze Haare, die
ihr lang über den Rücken hinabfielen. Ihre Schultern waren
breit, die Brüste rund und proper, Taille und Hüftpartie schlank
und wohlproportioniert. Sie war kunstvoll geschminkt und hatte
unglaublich lange Fingernägel. Doch es waren vor allem die
Augen, die Julia faszinierten. Sie waren unterschiedlich gefärbt -
eine Heterochromie, wie der Fachbegriff dafür lautete. Das eine
war fast schwarz, das andere hingegen hellgrau, Julia konnte
sich kaum davon lösen.
»Nun?« sagte sie freundlich. »Willkommen im Diesseits.«
»Wer sind Sie?«
»Ich heiße May Ching. Ich stehe in Diensten der DrachenTriade.«
»Nicht von Qin Shang?«
»Nein.«
»Ziemlich unfair, mich einfach unter Drogen zu setzen«,
flüsterte Julia wütend, während sie gegen die Schmerzen
ankämpfte.
»Ich vermute doch, daß Sie Lin Wan Chu, der Köchin auf der Sung Lien Star, das gleiche angetan haben«, sagte May Ching.
»Wo ist sie übrigens?«
»Sie wird jedenfalls besser behandelt als ich.«
May Ching zündete sich in aller Ruhe eine Zigarette an und
blies den Rauch zu Julia. »Wir hatten ein nettes
Plauderstündchen, Sie und ich.«
»Hat man mich verhört?« rief Julia. »Ich kann mich an nichts
erinnern.«
»Wie auch? Die allerneueste Wahrheitsdroge. Sie versetzt
einen nicht nur auf den geistigen Stand eines fünfjährigen
Kindes zurück, man hat auch das Gefühl, als ob einem glühende
Lava durch den Leib strömt. Man ist so außer sich vor Schmerz
und Wahnsinn, daß man jede auch noch so persönliche Frage
offen und ehrlich beantwortet. Übrigens, nur damit es Ihnen
nicht peinlich ist - ich habe Sie ausgezogen und durchsucht. Die
kleine Automatik und das Messer waren schlau versteckt. Die
meisten Männer wären nicht auf die Idee gekommen, zwischen
den Beinen oder an den Oberarmen danach zu suchen. Und das
Funkgerät war genau da, wo es eine Frau meiner Meinung nach
verbergen würde.«
»Sie sind keine Chinesin.«
»Nur mütterlicherseits«, antwortete May Ching. »Mein Vater
war Brite.«
In diesem Moment kamen Ki Wong und ein weiterer Mann
herein, der ebenfalls eurasische Züge hatte. Beide bauten sich
vor Julia auf und starrten sie lüstern an. Ki Wong, der neben
seinem braungebrannten Begleiter blaß und fahl wirkte, kostete
seine Genugtuung sichtlich aus.
»Hervorragende Arbeit«, sagte er zu May Ching. »Die
Auskünfte, die Sie ihr entlockt haben, werden uns noch höchst
nützlich sein. Da wir nun wissen, daß Miss Lee mit der
Küstenwache zusammenarbeitet und daß unsere Niederlassung
überwacht wird, können wir die Emigranten rechtzeitig
wegschaffen und sämtliche Beweise vernichten, bevor die
hiesigen Behörden oder der INS eine Razzia durchführen.«
»Noch eine
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