Höllenflut
Kreiselkompaß, der auf jede Richtungsänderung des Schiffes
reagierte, achtete er gar nicht. Er war heilfroh, daß die Fahrrinne
vor ihm frei war. Offenbar hatte man in Erwartung des großen
Dampfers jeglichen Schiffsverkehr angehalten. Hinter New
Orleans würde die Sache ganz anders aussehen, aber damit
wollte er sich auseinandersetzen, wenn es soweit war.
Er blickte zum Himmel auf und stellte erleichtert fest, daß das
Wetter weiter mitspielte. Es war warm und sonnig, und zum
Glück ging nur eine leichte Brise. Denn wenn in den scharfen
Flußbiegungen starke Winde auf den mächtigen Schiffskörper
einwirkten, könnte er nur allzuleicht ans Ufer gedrückt werden
und auf Grund laufen. Der azurblaue Himmel und die gleißende
Sonne spiegelten sich im Fluß, und das Wasser schimmerte
grünlich wie Kristallglas. Nach Backbord hin war die Fahrrinne
mit roten Bojen markiert, steuerbords waren sie grün, Er winkte
den Menschen am Uferdamm zu. Von der Brücke aus, die gut
neun Stockwerke hoch war, konnte er auf den Pöbel
herabblicken und auf die zahllosen Personenwagen und Pickups,
die rundum geparkt waren, die flachen Marschen und das
Ackerland, das sich dahinter erstreckte. Li Hungtschang kam
sich seltsam entrückt vor, so als ob jemand anders auf der
Brücke stünde und er sähe nur zu, wie das Verhängnis seinen
Lauf nahm.
Er malte sich bereits aus, wie man sie in New Orleans
empfangen würde, und lächelte vor sich hin. Millionen von
Amerikanern werden sich an diesen Tag erinnern, dachte er,
wenn auch nicht so, wie sie sich das vorgestellt haben.
40
Rudi Gunn erwartete Pitt und Giordino, als sie am späten
Nachmittag das Shantyboot zu Doug Wheelers Anlegestelle
zurückbrachten. Er hatte rote Augen, da er die ganze Nacht über
auf Pitts Meldungen gewartet und so gut wie nicht geschlafen
hatte. Er trug Khakishorts und ein T-Shirt mit der Aufschrift
ST. MARY PARISH, GOOD OU FASHION SOUTHERN
HOSPITALITY.
Nachdem sie den Tank aufgefüllt und ihre Ausrüstung auf die
Barkasse der Marine Denizen umgeladen hatten,
verabschiedeten sich Pitt und Giordino von Romberg, der kurz
den Kopf hob, ihnen ein mattes »Wuff« mit auf den Weg gab
und sofort weiterschlief.
Als sie ablegten, stellte sich Giordino neben Gunn ans Ruder.
»Meiner Meinung nach könnten wir alle ein anständiges
Abendessen und ein paar Stunden Schlaf gebrauchen.«
»Da kann ich nur beipflichten«, sagte Pitt gähnend.
»Ihr kriegt allenfalls eine Thermoskanne mit
Zichorienkaffee«, sagte Gunn. »Der Admiral ist eingeflogen. Er
hat Peter Harper vom INS mitgebracht. Ihr sollt euch
schleunigst an Bord des Kutters Weehawken einfinden.«
»Als ich den das letztenmal gesehen habe«, sagte Pitt, »lag er
oberhalb von Sungari vor Anker.«
»Jetzt liegt er vor dem Stützpunkt der Küstenwache in
Morgan City«, klärte Gunn ihn auf.
»Kein Abendessen?« fragte Giordino geknickt.
»Keine Zeit«, erwiderte Gunn. »Wenn ihr richtig brav seid,
kriegt ihr vielleicht auf die Schnelle einen Happen aus der
Kombüse der Weehawken.«
»Ich verspreche, daß ich brav bin«, sagte Giordino mit
treuherzigem Augenaufschlag.
Pitt und Gunn schauten sich ungläubig an. »Das glaube ich
nicht«, versetzte Gunn.
»Nie und nimmer«, stimmte Pitt zu.
Peter Harper, Admiral Sandecker, Captain Lewis und Julia
Lee erwarteten sie in der Offiziersmesse, als sie an Bord der Weehawken kletterten. Außerdem waren Generalmajor Frank
Montaigne vom Army Corps of Engineers und Kapitän Frank
Stewart von der Marine Denizen anwesend. Lewis fragte
freundlich, ob er ihnen irgend etwas besorgen könne. »Danke«,
sagte Gunn, bevor Giordino den Mund aufmachen konnte, »wir
hatten auf der Fahrt hierher bereits Kaffee.«
Pitt schüttelte Sandecker und Harper die Hand, dann gab er
Julia einen leichten Kuß auf die Wange. »Wann haben wir uns
das letztemal gesehen?«
»Vor zwei Stunden.«
»Kommt mir wie eine Ewigkeit vor«, sagte er mit seinem
teuflischen Grinsen.
»Hör auf«, versetzte sie und stieß ihn weg. »Nicht hier.«
»Ich schlage vor, daß wir zur Sache kommen«, sagte
Sandecker unruhig. »Wir haben eine Menge zu besprechen.«
»Doch zuerst darf ich Sie im Namen von Duncan Monroe
inständig um Verzeihung bitten«, sagte Harper, der sich
sichtlich zerknirscht gab, während er Pitt und Giordino die Hand
schüttelte. »Außerdem möchte ich mich persönlich bei der
NUMA und Ihnen, meine Herren, dafür bedanken, daß Sie
unsere Aufforderung, sich aus den
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