Höllenflut
Unterlagen
ausfindig gemacht hatte. Demnach galt sie als sehr stabiles
Schiff, das im Lauf seiner langjährigen Dienstzeit die
schlimmsten Stürme überstanden hatte, von denen die Gewässer
vor der ostasiatischen Küste heimgesucht worden waren.
Er engagierte ein paar Forscherkollegen, die in seinem
Auftrag in den englischen und südostasiatischen Archiven
recherchierten. Auf diese Weise nutzte er nicht nur den
Sachverstand anderer Marinehistoriker, sondern er sparte auch
viel Zeit und Geld.
Perlmutter wünschte sehnlichst, er könnte seinen alten Freund
und Kollegen Zhu Kwan in China zu Rate ziehen, doch seines
Wissens wollte Pitt nicht, daß Qin Shang irgendwie von der
Sache erfuhr. Er setzte sich allerdings mit ein paar persönlichen
Freunden in Taiwan in Verbindung und erkundigte sich nach
eventuell noch lebenden Kampfgefährten von Tschiang
Kaischek, die möglicherweise nähere Auskünfte über die
verschollenen Schätze geben könnten.
In den frühen Morgenstunden, als die meisten Menschen
schliefen, saß er vor seinem Computermonitor, der so groß war
wie ein Projektionsbildschirm, und wertete die bisherigen
Erkenntnisse aus. Zuerst besah er sich eins der sechs
existierenden Fotos von der Princess Dou Wan. Ein stattliches
Schiff, dachte er. Die Aufbauten waren weit zurückgesetzt und
wirkten klein im Verhältnis zum Rumpf. Er musterte die
Farbaufnahme, vergrößerte dann das weiße Band in der Mitte
des grünen Schornsteins und betrachtete das Emblem der
Canton Lines, einen goldenen Löwen mit erhobener rechter
Pranke. Die zahlreichen Ladebäume deuteten darauf hin, daß
das Schiff neben den Passagieren auch eine ganz ordentliche
Fracht befördern konnte.
Er fand auch Fotos von ihrem Schwesterschiff, der Princess
Yung Tai, die ein Jahr nach der Princess Dou Wan vom Stapel
gelaufen war. Den Aufzeichnungen zufolge war sie sechs
Monate vor der letzten Fahrt der Princess Dou Wan abgewrackt
worden.
Ein ausgedienter alter Dampfer, der zum Verschrotten nach
Singapur fahren soll, ist nicht gerade dafür geeignet, die großen
Kunstschätze Chinas an einen geheimen Ort zu bringen, dachte
er. Sie war überaltert und vermutlich alles andere als im
Bestzustand kaum noch in der Lage, die schweren Sturmseen
abzuwettern, in die sie auf einer Fahrt quer über den Pazifik
stets geraten konnte. Außerdem wäre es seiner Meinung nach
vernünftiger gewesen, die Schätze nach Taiwan zu bringen,
denn dorthin hatten sich Tschiang Kaischek und seine
Kuomintang-Kämpfer schließlich zurückgezogen und die
Nationale Republik China ausgerufen. Schwer nachvollziehbar,
wieso ein Marinefunker in Valparaiso in Chile die letzte
Meldung von ihr aufgefangen hatte. Zu welchem Behufe sollte
sich die Princess Dou Wan mehr als sechshundert Meilen
südlich vom Wendekreis des Steinbocks aufgehalten haben, in
einem Seegebiet fernab der üblichen Schiffahrtsstraßen durch
den Pazifischen Ozean?
Selbst wenn der Dampfer die Kunstschätze heimlich außer
Landes, nach Afrika oder Europa, schaffen sollte - warum fuhr
er dann durch die endlose Weite des Pazifik, offenbar mit Kurs
auf die Magellanstraße, obwohl der Weg durch den Indischen
Ozean und um das Kap der Guten Hoffnung viel kürzer gewesen
wäre? War der Auftrag etwa so geheim, daß der Kapitän nicht
einmal durch den Panamakanal fahren durfte? Oder besaß
Tschiang Kaischek irgendwo in den Anden einen Bunker, in
dem er seine Schätze verstecken wollte? Wenn sich denn
beweisen ließ, daß dieses Schiff tatsächlich die großen
Kunstschätze des alten China an Bord gehabt hatte.
Perlmutter war ein gründlicher Mensch. Er nahm nichts als
selbstverständlich hin. Er fing noch einmal von vorne an und
musterte erneut die Fotos von dem Schiff. Als er die Umrisse
betrachtete, meinte er zum erstenmal eine leise Ahnung zu
haben. Er rief einen befreundeten Marinearchivar in Panama an,
weckte ihn mitten in der Nacht auf und redete ihm so lange gut
zu, bis er sich bereit erklärte, sämtliche Unterlagen über die
Schiffe durchzugehen, die zwischen dem 28. November und
dem 5. Dezember 1948 den Kanal in west-östlicher Richtung
durchfahren hatten.
Nachdem er dieser Spur nachgegangen war, nahm er sich eine
Auflistung mit den Namen sämtlicher Offiziere vor, die zuletzt
auf der Princess gefahren waren. Bis auf Kapitän Leigh Hunt
und Ian Gallagher, den Chefmaschinisten, waren es lauter
Chinesen.
Er kam sich vor wie ein Roulettespieler, der seine Jetons
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